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Ein neuer Höhenrausch an der Themse
Neue Zürcher Zeitung

Modische Wolkenkratzer für London

Obwohl seit den sechziger Jahren in der Londoner City und später auch rund um die Canary Wharf Hochhäuser entstanden, beschäftigte man sich in Grossbritannien bisher nicht ernsthaft mit dem Thema Wolkenkratzer. Nun sollen im Zuge der neu aufgeflackerten Hochhausdebatte auch an der Themse attraktive Türme entstehen.

5. Januar 2001 - Patrick Barton
Es ist das Gemisch aus viktorianischem Zierwerk, nüchternem Nachkriegsgrau und edler Avantgarde, das London architektonisch unverwechselbar macht. Ganz im Sinn britischen Understatements widerstand man in der Metropole - sieht man einmal von der City und den Docklands ab - bisher der Verlockung, mit Hochhäusern oder gar Wolkenkratzern das Stadtbild neu zu definieren. Angesichts horrender Büromieten verheissen Wolkenkratzer heute aber den Investoren verlockende Gewinne. Zudem entspricht die neu aufgeflackerte Londoner Hochhausdebatte einer auf dem Kontinent längst in Mode gekommenen Entwicklung.


Hochhausdebatte

Der neue Londoner Hochhauskult wird Prinz Charles kaum gefallen. Das ist aus fachlicher Sicht zwar unmassgeblich, gesellschaftspolitisch aber dennoch relevant. Nach seinen in Architektenkreisen nicht eben geschätzten Tiraden gegen die Verschandelung der City rund um St. Paul's Cathedral mit Bürotürmen hat er seinen Kampf gegen «schlechte» Architektur und sein Nachdenken über Baukunst mit einer nach ihm benannten Architekturstiftung institutionalisiert. Nun hat er erneut Grund zu einem Wehgeschrei: Träumen doch Investoren und Architekten davon, mit Wolkenkratzern Akzente ins Stadtbild von London zu setzen, die sich vom Einerlei der bisherigen Hochhäuser unterscheiden. Da Bauland immer rarer wird und Firmen an prestigeträchtigen Adressen derzeit monatlich an die 1000 Franken pro Quadratmeter Bürofläche zahlen, sollen die neusten Türme nicht mehr nur in der City, sondern auch im boomenden Southwark und bei der Paddington Station entstehen.

Diese städtebauliche Debatte, auf die man in London eingeschwenkt ist, kennt man auf dem Kontinent bereits aus Städten wie Frankfurt, Barcelona, Berlin, Wien oder gar Zürich. Nun ist London mit all diesen Städten nicht wirklich zu vergleichen. Weder ist es wurzellos wie Frankfurt, noch hegt es einen Metropolentraum wie Zürich, der sich gegenwärtig nicht nur in Stadionprojekten, sondern auch im bisher unerfüllt gebliebenen Wunsch nach Wolkenkratzern spiegelt. Aber auch London möchte trendy sein. Deshalb strebt man nun buchstäblich an allen Ecken und Enden der Stadt in die Höhe - zumindest auf dem Papier. Pläne für insgesamt zehn Projekte sind schon an die Öffentlichkeit gelangt.

Dabei steht eines ausser Frage: Besondere Hochhäuser sollen es werden. Das will nicht zuletzt Norman Foster beweisen, dessen spektakulärste Bauten bisher bezeichnenderweise ausserhalb Londons entstanden sind - sieht man von der längst fertig gestellten, aber wegen zu starker Schwankungen immer noch nicht benutzbaren Millennium Bridge oder von der eben eingeweihten Hofüberdachung des British Museum ab. Für seinen Wurf hat sich Foster, inzwischen vom Sir zum Lord aufgestiegen, einen prominenten Ort in der City ausgesucht, ganz in der Nähe des von seinem einstigen Partner Richard Rogers für Lloyd's errichteten Bürobaus, der immer noch als das eigenwilligste Hochhaus der Stadt bezeichnet werden darf. Da, wo im 19. Jahrhundert am Baltic Exchange der Börsenhandel florierte, will Foster der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft ein vom Volksmund bereits «gherkin» (Essiggurke) genanntes Gebäude hinpflanzen.

Das phallische Leitmotiv der Wolkenkratzerarchitektur nimmt diese Gurke gerne auf. Die Fassade des Gebäudes spannt sich - in der Mitte leicht angeschwollen - von der kreisrunden Grundfläche zur schmalen Spitze. Die gläserne Aussenhaut wird von diagonalen Stahlstreben eingefasst. Als selbsternannter Wunderheiler hofft Foster, die kurvige Form seines Baus werde mit der strengen Vertikalität der umliegenden Türme kontrastieren und deren Erscheinungsbild konsolidieren. Insgesamt 40 Etagen mit 40 000 Quadratmetern Nutzfläche werden um einen Kern gedreht, wobei jedes Stockwerk von aussen leicht versetzt erscheint. Mehrere Segmente auf jeder Etage sind Teil von stockwerkübergreifenden «Sky Gardens», die gleichsam als Lungen des Gebäudes fungieren sollen. Sie erfüllen dieselbe mikroklimatische Funktion wie die Gärten in Fosters Frankfurter Commerzbank, dem derzeit höchsten Haus Europas.

Es sei «das erste ökologische Hochhaus» Londons, preist der Architekt sein organisch geformtes Turmhaus. Für das grüne Innenleben verweist er auf Buckminster Fuller, der mit seinem «Climatroffice» die Natur ins Büro holen wollte. Diese Reverenz an den grossen Baumeister gestattet sich Foster gerade noch; ein Hinweis darauf, dass die Architektengruppe «Future Systems» 1996 mit ihrem «Green Bird»-Projekt ein dem Foster-Turm nicht unähnliches Gebäude entworfen hat, wäre dann aber doch ein zu grosses Eingeständnis gewesen. Zu jener Zeit, als Future Systems ihren Riesenpenis entwarfen, war Foster mit dem «Millennium Tower» gescheitert. Dieser hätte mit seinen 92 Stockwerken und einer Höhe von 385 Metern selbst die Frankfurter Commerzbank überragen sollen und hätte so einen neuen Europarekord aufgestellt.


Pianos Höhenrekord

Nach diesem Höhenrekord strebt nun Renzo Piano auf der anderen Seite der Themse. In Southwark, nahe der London Bridge, will der Genuese für einen britischen Investor das höchste Haus Europas bauen. Es soll ein spitz zulaufender Turm werden, dessen Ende sich dereinst im Londoner Nebel verlieren wird wie der Mast eines Schiffs. Die Höhe sei dabei kein Selbstzweck, versichert der Investor. Vielmehr entspringe sie dem wirtschaftlich Notwendigen. Denn sie bietet vor allem Platz, und zwar genug für eine vertikale Stadt mit 10 000 Menschen in Büros, Geschäften und Wohnungen. Selbst an ein Museum wurde gedacht. Der auf annähernd zwei Milliarden Franken veranschlagte Bau soll mit seinen 80 Stockwerken 390 Meter hoch werden. Bezüglich Technik will Piano mit seinem Konkurrenten Foster gleichziehen: Auch sein Turm soll auf jeder Etage einen Wintergarten haben mit Fenstern, die für die Frischluftzufuhr geöffnet werden können. Der Baugrund liegt am Ostrand jenes Quartiers von Southwark, das im Sog der von Herzog & de Meuron geschaffenen Tate Modern gegenwärtig prosperiert. Etwas weiter im Süden von Southwark, in Elephant and Castle, strebt man ebenfalls nach Höherem: Ein Hochhaus von Foster sowie ein Gebäude mit 50 Stockwerken von Ken Yeang, dem malaiischen Verfechter eines Öko-Hightech, sollen hier entstehen. Das Gebiet ist verkehrstechnisch gut erschlossen: Zwei der wichtigsten Bahnhöfe der Stadt, Waterloo und London Bridge, befinden sich relativ nahe. Die U-Bahn-Erweiterung der Jubilee Line nach Greenwich hat Southwark zudem drei neue Stationen beschert, die den Borough näher ans Stadtzentrum rücken.

Für Piano ist Southwark vertrautes Terrain, beteiligte er sich doch am Wettbewerb für den Umbau von Scotts Bankside Power Station in die Tate Modern, bei dem sein Entwurf hinter Herzog & de Meuron den zweiten Platz errang. Nun scheint ihn aber ein Höhenrausch erfasst zu haben, den er an ausgewählten Orten auslebt: So schuf er in Sydney jüngst ein 240 Meter hohes Bürohaus (NZZ 1. 9. 00), und in New York wird er einen Turmbau für die «New York Times» errichten. Für London ist derweil noch nichts entschieden. Ernsthafter Widerstand gegen seinen spitzen Wolkenkratzer deutet sich an. Das höchste Haus des Landes, höher gar als alles auf dem Kontinent, von einem Italiener? - so lautet die Kritik. Foster ist da schon weiter: Seine «Gurke» muss nur noch von John Prescott, dem Stellvertreter Tony Blairs, abgesegnet werden. Und einem Lord sagt man wohl nur ungern Nein.


Technisch angehauchte Türme

Eine solche Zusage könnte es dem anderen Lord, Richard Rogers, erlauben, sein 40-stöckiges Hochhaus in der Nähe des Bahnhofs Paddington im Norden der Stadt weiterzuplanen. Auch diese Gegend ist aufstrebend, besonders seit der Installierung einer Schnellzugverbindung, mit der man in einer Viertelstunde zum Flughafen Heathrow gelangen kann: Gerade international tätige Branchen erwärmen sich in London, dessen Privatverkehr des Öfteren zum Erliegen kommt, immer mehr für diesen Standortvorteil. Ein paar hohe Häuser stehen dort schon, aber Rogers möchte mit seinem Turm noch höher hinaus. Es ist ein typisches Rogers-Stück, technisch angehaucht, gläsern, stahlschwer - und doch mit grünen Gärten im Innern und einem Atrium, wie es sein Landsmann Foster in eine Reihe von Hochhäusern integriert hat. Die formale Eigenwilligkeit des Lloyd's Building lässt das Modell nicht erkennen, wohl aber Rogers' Hang zur Zelebration des baulichen Urzustands, der den Betrachter zweifeln lässt, ob der Bau schon fertig ist. Wieder lassen sich die eigenständigen Entwicklungen erkennen, die er und Renzo Piano genommen haben, seit sie mit dem Centre Pompidou das Paris der siebziger Jahre aufschreckten.

Wohl nicht ohne auf das Treiben seiner Konkurrenten zu schielen, hat für Paddington auch Nicholas Grimshaw einen 47-stöckigen Tower aus Stahl und Glas entworfen. Er soll Teil einer gross angelegten Imagekampagne sein: Als Bauherrschaft zeichnet das Eisenbahnunternehmen Railtrack. Es hat nach einer Reihe von Entgleisungen jeder Art wohl ein Bedürfnis, modern und rostfrei zu erscheinen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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