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Wohnen in Zwischenräumen
Neue Zürcher Zeitung

Japanische «Minihäuser» - eine Ausstellung in Weimar

Wie soll Architektur aussehen, wenn die Stadt immer weiter wächst und Raum immer knapper wird? In den unüberschaubaren Stadtagglomerationen Japans hat eine junge Generation von Architekten zu beeindruckenden Lösungen gefunden, deren Entstehung gegenwärtig im Bauhaus-Musterhaus von Georg Muche in Weimar präsentiert wird.

Anfang September war es wieder so weit: Die Tokioter Strassen und Plätze füllten sich mit Menschen. In den Schulen krochen die Kinder unter die Tische oder verschwanden unter viel zu grossen Brandschutzhüten. Die alljährliche Probe des Ernstfalles führt den Bewohnern Tokios vor Augen, dass schon morgen das eigene Haus, die Wohnung und die Stadt drumherum in Schutt und Asche liegen könnten. Die Übung findet immer am 1. September statt, denn im Jahr 1923 erschütterte an diesem Tag ein Erdbeben der Stärke 7,9 auf der Richter-Skala die japanische Hauptstadt. 145 000 Menschen kamen in ihren Häusern ums Leben. Es war die verheerendste Erdbebenkatastrophe in der japanischen Geschichte. Doch niemand weiss, wann das nächste grosse Beben kommt. Nur dass es kommt, gilt als sicher.

Bauen in den erdbebengefährdeten urbanen Zentren Japans heisst, Architektur auf unsicherem Boden zu errichten. Es heisst aber auch, eine architektonische Antwort auf einen nach europäischen Standards völlig unstrukturierten Stadtraum ohne Mittelpunkt formulieren zu müssen, auf ein dichtes Gestrüpp aus blinkenden Reklametafeln, Symbolen und Überlandkabeln. Wie eine solche Architektur aussehen könnte, zeigt derzeit eine kleine, aber sehenswerte Ausstellung im Bauhaus-Musterhaus von Georg Muche in Weimar. Sie gibt einen Überblick über die jüngsten Beispiele kleiner Einfamilienhäuser in Japan. Der Münchner Architekt Hannes Rössler hat hier sechs Modelle von Minihäusern aufgestellt. Sie dokumentieren gebaute Ideen zum Wohnen in der Enge - das kleinste Haus erhebt sich über einer Fläche von nur 30 Quadratmetern! Das städtische Umfeld und die innere Gestaltung dieser Häuser kann der Besucher per Computeranimation erkunden.

Das von der Architektengruppe FOBA errichtete Haus «Aura» füllt zum Beispiel den Platz einer drei Meter breiten und zwanzig Meter tiefen Gasse. Zu beiden Seiten des Grundstücks wurden Stahlbetonwände errichtet und dazwischen zwei Etagen eingehängt. Um Tageslicht in die Mitte des Hauses zu bringen, wurde das Dach transparent gehalten. Eine milchig-trübe Fiberglasmembran haben die Architekten an der Fassade von Wand zu Wand gespannt. Sie setzt so das Gebäudeinnere rund um die Uhr den wechselnden Lichtverhältnissen aus. Nachts glüht das Haus von innen heraus, beleuchtet die Strasse und unterhält die Passanten durch die sich auf der Fassade abzeichnenden Körper der Bewohner. Ein Schattenspiel des Alltags ist da im Gange, das selbst Intimitäten nach aussen projiziert. Andersherum erzählt die Stadt mit ihren Lichtern die Geschichte vom metropolitanen Leben noch im letzten Winkel des Hauses, sobald in ihm das Licht ausgeht.

Das junge Team definiert mit dieser ungewöhnlichen Fassade die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit neu, indem es ein weiches Verschmelzen beider Pole, eine eher soziale denn architektonische Grenzziehung zwischen Innen und Aussen vorschlägt. Mit derselben fliessenden Offenheit erschliesst Jun Tamaki das Innere seines «Hakama»-Hauses. Was nach aussen an einen epigonenhaften Verschnitt der blendend weissen Kisten der Moderne gemahnt, stellt sich im Inneren als eine stille Raumkomposition heraus. Um eine zentrale Halle sind alle Räume angeordnet und von ihr nur durch Vorhänge aus Stoff getrennt. Eine sinnliche Architektur ist das, die sich dem weichen Fluss von Licht und Geräuschen nicht in den Weg stellt. Zur Aussenwelt hin herrscht dagegen wehrhafte Abschottung: Die wenigen in Trichterform tief in die Mauer gegrabenen Fensteröffnungen wechseln mit schmalen schiessschartenartigen Schlitzen. Das Ausblenden der Umgebung ist ein Moment, das oft neben der programmatischen Offenheit existiert. Diese architektonische Geste will mit aller Deutlichkeit zeigen, dass der der Stadt abgerungene kleine Raum für das Wohnen erhalten bleiben soll.

Der Nicht-Ort, an dem entlang alle diese Häuser ihren Platz gefunden haben, heisst Sukima. Sukima steht für «Spalte» oder «Ritze». Durch die japanische Bauverordnung hat dieser kleine Zwischenraum eine ungeheure Dimension bekommen: Um zu verhindern, dass bei Erdbeben einstürzende Baumassen benachbarte Häuser mitreissen, lässt man zwischen allen Häusern einen Spalt unbebaut. Die neuen Minihäuser bemächtigen sich dieser weissen Flecken auf der Stadtkarte. Etwa das «Moca»-Haus des Ateliers Bow-Wow, dessen obere Etagen nur über die in der Spalte aufsteigende Treppe zu erreichen sind. Sukima - das Bauen in der Ritze - könnte zum Schlagwort für ein neues metropolitanes Lebensgefühl werden, für ein Wohnen, das sich im 21. Jahrhundert einzurichten versucht. Sukima als gesuchter neuer Lebensraum überall dort, wo es vorher keinen Platz mehr zu geben schien.


[Bis 21. Januar. Katalog: Minihäuser in Japan. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2000. 64 S., DM 30.- in der Ausstellung. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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