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Neues Leben am Wasser
Der Standard

Aus dem Schutt der Twin Towers kommen erste Vorstellungen, was an Manhattans Südspitze entstehen kann. Der Monomanie könnte Vielfalt entgegengestellt werden, der Betonkubatur eine wiedererstandene Hafenanlage.

15. Dezember 2001 - Joseph Giovannini
Bis zum 11. September, als American Airlines Flug 11 über Manhattan hereinbrach wie eine Flutwelle, war die moderne Kriegsführung für die Vereinigten Staaten ein Exportposten, der per Computer geliefert wurde. Nie hatte der amerikanische Kontinent die Zerstörungen erlebt, die so viele Länder auf der ganzen Welt immer wieder heimsuchen. Vor allem die Gebäude an der Wall Street sind reine Geldpumpen, und erst als die Twin Towers einstürzten und Tausende Menschen in den Tod rissen, begannen die Amerikaner zu begreifen, was Wiederaufbau heißt, was Häuser alles zusätzlich bedeuten - kulturell, sozial und politisch.

Ob noch größer und noch besser gebaut werden soll, als Herausforderung und zum Gedenken, oder ob der Platz doch besser leer bleibt, ein Vakuum des Grauens, das scheinen die Fragen nach der Tragödie zu sein, die die Menschen polarisieren. Beide Argumente haben ihre Berechtigung - Wiederaufbau als Ausdruck ungebrochener Lebenskraft oder Schaffung einer Grünfläche, die die unantastbare Heiligkeit des Friedhofs symbolisiert.

Die Frage, was mit dem Stück Land und dem grenzenlosen Schmerz passieren soll - die Lücke füllen oder sie dem Nichts widmen - hat die Gemüter erregt. Was alle einigt, ist die Gewissheit und der Wunsch, dass etwas geschehen muss, um New York neu zu gestalten. Die Arbeiten sind Trauerarbeit und Teil des Heilungsprozesses. Eigenartig, dass unsere Herzen in Gebäude einziehen, als ob sie Gefäße für unsere Gefühle wären.

Als Minoru Yamasaki, der Architekt der Trade Towers, gefragt wurde, warum er nur 110 Stockwerke und nicht etwa doppelt so viele geplant hatte, antwortete er, er wollte „den menschlichen Maßstab einhalten“. Tatsächlich erhielten die Häuser erst ein menschliches Antlitz, als die vielen Vermisstenanzeigen eine Stadt in Trauer überfluteten. Die Twin Towers waren Gebäude, die in ihrer kühlen Ordnung das Unpersönliche des American Way of Life darstellen, angefangen von den weiten leeren Flächen des Plaza bis zu den eintönigen Fensterreihen der beiden Türme. Gewiss, die Türme waren in Manhattans Skyline die Symbole der Hoffnung und des Fortschritts, Ausdruck eines zeitlosen Strebens nach oben. Und sie waren bemerkenswerte Leistungen der Baukunst.

Aber klug waren sie nicht. Jede Medina in Marokko, jeder Suk in Syrien ist vergleichsweise ein organischer Ort für Menschen unterwegs. In den engen Gassen sind Begegnung möglich und Augenkontakt üblich. Der öffentliche Raum, in dem sich die Menschen hier bewegen, ist in höchstem Maße persönlich und damit ein krasser Gegensatz zur industrialisierten Anonymität der Superwolkenkratzer, in denen Rolltreppen und Aufzüge endlose und erinnerungslose Menschenströme transportieren. Sogar die Fassaden der Towers erinnerten an Computerchips und hoben sich in ihrer Monotonie beziehungslos von der Umgebung ab.

Die Globalisierung einer solchen Architektur schaffte es nicht, das Besondere, das jeden Ort auszeichnet, einzubeziehen. Nicht einmal in New York gingen die Türme auf das Typische der unmittelbaren Nachbarschaft ein. Höher und wuchtiger als alle anderen beherrschten sie das Spargelfeld der Wolkenkratzer. Im Rigorismus der Schachtel war vom Leben in der Straße, vom nahen Wasser nichts zu entdecken.

Stadtplaner und Architekten haben rasch eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die NYC Rebuild Group, unterteilt nach verschiedenen Bereichen. Eine der wichtigsten Untergruppen beschäftigt sich mit der Planung von Ground Zero als integrativem Teil von Lower Manhattan und dem Hafenviertel. Schon vor dem 11. September gab es die Tendenz, den Finanzdistrikt aufzulockern und Verwaltungsbüros in der Nähe anzusiedeln. New York sollte dieses Modell erfinderisch mitgestalten, statt die Abwanderung Richtung Nachbarstaat New Jersey zuzulassen (wo sogar Newark, Meilen entfernt, bereits einen Masterplan rund um das neue Zentrum für darstellende Kunst entwickelt hat, um die Finanzbranche anzuziehen).

Aus praktischen Gründen wird der Umbau von Ground Zero frühestens in einem Jahr beginnen, sieht man vom Ausbau der U-Bahn ab. Die Vorstellung, dass Immobilien hier eine Rarität sind, ist ein Mythos: Die Ufer des East River und das Hafengebiet von New York sind voll von kaum genutzten Gebieten früherer Industrieanlagen, die mit dem Börsenviertel durch eine neue Infrastruktur zusammengeführt werden können, vor allem mit U-Bahnlinien, die Ost und West verbinden.

Mit Ground Zero als Zentrum des Finanzdistrikts ist es möglich, die Waterfront, das Hafengebiet neu zu entdecken. Im ausgezeichneten urbanen Projekt für die Olympischen Spiele 2012 (New York kam in die engere Wahl) wurden bereits Vorschläge für den Ausbau der Uferzonen des East River ausgearbeitet. In einer großzügigen urbanen Vision dehnt sich die Spitze des Börsenviertels bis zum Hafen aus. Ganz Lower Manhattan verfügt dann - ein großer Vorteil vor allem in Katastrophenfällen und auch für militärische Zwecke - über ein Fährennetzwerk. Am 11. September und nachher hat der ungestörte Flussverkehr vieles leichter gemacht.

Auch in der neuen Infrastruktur ist Ground Zero Mittelpunkt. Bleibt die Frage offen, wie man in einem Gelände, das für immer ein Ort der Trauer ist, Neues aufbauen kann. Ein Vorschlag lautet, die jeweils 0,4 Hektar großen Flächen, auf denen die Türme standen, als leeren Raum zu erhalten und auf den restlichen 5,6 Hektar, gleichsam in umgekehrter Nutzung des Areals, ein neues Gebäude zu errichten. Oder die Quadrate der Türme zu Becken umzubauen und mit Wasser aus dem Hudson zu füllen. Kleine Seen würden einen Ort der Besinnung schaffen, auf einem Stück Erde, dem der Frieden genommen wurde. Die restlichen 5,6 Hektar wären New York City - nicht das monofunktionale Downtown der Geschäftemacher, sondern ein 24-Stunden-Viertel mit Wohnhäusern, Geschäften, kulturellen Einrichtungen, wild vermischt mit den Finanzdienstleistern - in Sinne dessen, was Rem Koolhaas Manhattans „culture of congestion“, seine Ballungskultur genannt hat.

Die New Yorker sollten an den Prophet Jesaja denken, der sagte: Wer alles zerstört, wird selbst zerstört werden. Und sie sollten Churchills Diktum beherzigen, dass Gebäude uns formen. New York muss auf Asche aufbauen, das ist wahr, aber in einer selbstkritischen Art, um die Fehler der Türme zu korrigieren.

Inhaltlich fällt einem das Wunder ein, das Daniel Libeskind mit dem Jüdischen Museum in Berlin gelang, als Antwort auf eine andere Form der Vernichtung. Wie der Museumsbau fordert der Wiederaufbau der Türme eine Architektur, die elegisch ist, suggestiv und ungewöhnlich. Was immer die Narbe zudeckt, es kann nicht Business as usual sein, auch wenn einer der Zwecke Business sein wird.

Wenn dies tatsächlich der erste „poststrukturelle“ Krieg ist, mit einem weit verzweigten dezentralen Terrornetz, wie könnten dann ein World Trade Center wiedererstehen, das sich seiner zentralisierten, autoritären Form entledigte? Wenn die 1,4 Millionen Quadratmeter verlorener Büroräume teilweise oder ganz aus dem World Trade Center zu den kaum genutzten Ufern des Hudson und des East River verlegt werden, dann führt die Tragödie vom September zu einer Wiederbelebung des Hafens, der durch das Aufkommen der Containerschifffahrt überflüssig geworden war. Mit der Erschließung des Hafenviertels würden neue Gebäude die Stadt zu ihren Ursprüngen zurückführen und den Schmerz lindern, der noch lange anhalten wird. Diese neuen Gebäude mit verschiedensten Funktionen, Identitäten, Bedeutungen würden sich entscheidend von den in minimalistischer Eindimensionalität erstarrten Monolithen unterscheiden.

Aber was immer auch folgt, es muss der Größe der Aufgabe gewachsen sein, es muss von einer Großartigkeit sein, die an diesem Ort der Trauer nichts mit messbarer Quantität zu tun haben kann. Wenn wir die Seele New Yorks spüren wollen, fällt uns spontan Harlem, nicht Wall Street, ein. Was immer mit Downtown geschieht, der Wiederaufbau muss etwas verändern, und er muss die Herzen berühren.


[Deutsch von Ulla Kleihs
Joseph Giovannini ist Architekturkritiker der New York Verdana.]

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