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Wenig Ethik, viel Ästhetik
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt Jean Nouvel im Centre Pompidou in Paris

21. Dezember 2001 - Marc Zitzmann
Die grösste Ausstellung, die bisher Jean Nouvel gewidmet wurde, ist gegenwärtig im Centre Pompidou in Paris zu sehen. Die vom Meister selbst inszenierte Schau will «weder umfassend noch objektiv, retrospektiv, didaktisch oder wissenschaftlich» sein. Nichteingeweihten wird mit dieser Ausstellung der Zugang nicht eben leicht gemacht.

Seine Jünger behaupten, Jean Nouvel schaffe mit jedem Projekt radikal Neues. Kritischere Geister finden hingegen, der formale Einfallsreichtum des französischen Architekten sei doch eher beschränkt. Sie wollen in seinem Schaffen Leitmotive ausmachen wie nautische Assoziationen in den achtziger Jahren und auskragende, riesige Flachdächer sowie mehrschichtige Fassaden in jüngerer Zeit. Zumindest ein roter Faden durchzieht Nouvels Werk wohl spätestens seit dem Pariser Institut du Monde Arabe (IMA): das Streben nach einer komplexen, vexierspielartigen Wahrnehmung. Diese fesselt oder irritiert den Betrachter, weil er die je nach Standort, Tageszeit und Wetterlage stark wechselnden Einzelansichten von ein und demselben Gebäude nicht unter einen Hut zu bekommen vermag.


Perzeptive Vielschichtigkeit

Die Mittel, mit denen der Autor des KKL in Luzern diesen Irritationseffekt erzeugt, sind vielfältig. Immer jedoch handelt es sich um ein Spiel mit Licht oder mit optischen Effekten. Das IMA liefert hierfür ein gutes Beispiel. Durch die geometrisch-orientalischen Aluminiumblenden der Südfassade einfallendes Tageslicht bricht sich im Metallgestänge der offenen Treppenhäuser und wird durch Glaswände und matt glänzende Böden reflektiert. Das Ergebnis ist ein quecksilbrig changierendes Seherlebnis aus grell saturierten und schattenhaft mysteriösen Formen, die räumlich nur schwer einzuordnen sind. Hauptziel von Nouvels meisten Arbeiten scheint weniger die unmittelbare Fassbarkeit von Struktur, Materialbeschaffenheit oder Farbgebung zu sein als die Schaffung einer räumlichen Perzeption, die Mehrschichtigkeit andeutet, aber nicht enthüllt, und so Lust auf Erforschung macht.

Auch der Auftakt zur grössten dem Architekten bisher gewidmeten Schau, die das Centre Pompidou zurzeit präsentiert, weckt den Entdeckergeist. In einem dunklen Raum mit schwarz poliertem Boden prangen an den Wänden, gleich einem streng rasterförmigen Kirchenfenster, Myriaden von leuchtenden Dias mit Werken und Projekten; darüber befinden sich grossformatige Projektionen von Detailaufnahmen. Ganz klar: Der Raum trägt die Handschrift des Meisters - und da liegt auch das Problem. Denn Nouvel zeichnet nicht nur für die Szenographie verantwortlich, sondern auch für die Texte zu den (noch) nicht gebauten Projekten, die im Mittelpunkt der Ausstellung stehen. Diese Texte sind höchst heterogen: manche konzis, andere aphoristisch vage, ausufernd wie kleine Essays oder in jenem forschen Tonfall verfasst, der potenzielle Bauherren überzeugen soll. Da diese Projekte - zwangsläufig - nur durch Computerbilder illustriert werden, welche (zumal bei einem Architekten wie Nouvel, bei dem die Materialien und die Hic-et-nunc-Perzeption so wichtig sind) nur einen sehr ungefähren Eindruck zu vermitteln vermögen, wären knappe, sachbezogene Informationen nötig. Die jedoch findet man beileibe nicht immer. So bleiben schicke virtuelle Bilder im Halbdunkel.

Man fragt sich, was die Kuratorin Chantal Béret, Konservatorin am traditionell kopflastigen Centre de création industrielle im Pompidou-Museum, zur Schau beigesteuert hat - abgesehen von einem Katalogtext, dessen blosse Zwischentitel schon Gänsehaut erzeugen: «Das Infradünne der Lichtmaterie», «Vom Schirm zur Mitte: in Richtung einer symbiotischen Hybridisierung» . . . Gewiss, Georges Fessys auf Riesenbildschirme projizierte Fotos von elf Nouvel-Gebäuden beeindrucken schon durch ihre schiere Grösse. Und die Multimediasektion wartet auf mit Videofilmen von achtzehn Bauten, dem auf Computern abrufbaren Gesamtwerk und Monologen des Architekten, die man leider kaum versteht. Aber der Mehrwert der Ausstellung, die laut Béret «weder umfassend noch objektiv, retrospektiv, didaktisch oder wissenschaftlich» ist, dürfte für Nichteingeweihte gering sein: Klar wird nicht einmal, welche Projekte gebaut wurden und welche nicht. Allein mit dem ästhetischen Arrangement einer Riesenfülle von visuellem Material ist es jedenfalls noch nicht getan. Zumal auch der Griff zum Katalog bis auf einen lesenswerten Essay von Frédéric Migayrou den Griff in den Geldbeutel kaum rechtfertigt. Ganz abgesehen von der (berufs)ethischen Frage, inwieweit eine solche Quasi-Selbstzelebrierung in einer öffentlichen Institution am Platz sei. «Less aesthetics, more ethics»! - das Motto der letztjährigen Architekturbiennale von Venedig, wo Nouvel den französischen Pavillon radikal umgebaut hat, wollte man Ausstellungsmachern gern zurufen.


Einbezug der Natur

So tröstet man sich mit einer Sonderausgabe der Zeitschrift «amc Le Moniteur Architecture», in der 25 jüngere Projekte präsentiert werden. Zwar sind auch hier die Verantwortlichen eifrig bestrebt, kein schlechtes Haar an ihrem grossen Landsmann zu lassen, doch liefern sie zumindest genügend Informationen, um ihr hymnisches Urteil auch nachvollziehbar zu machen. Und wirklich: Viele der im Entstehen begriffenen Projekte wirken äusserst spannend. So soll ein gewehrpatronenförmiges Hochhaus in Barcelona entstehen, das dank einer doppelten Hülle aus serigraphiertem Glas und mit farbigem Wellblech verkleidetem, unregelmässig von Fenstern durchbrochenem Beton einen raffiniert changierenden, von weitem wie gepixelten Anblick bietet.

In vielen der neueren Projekte spielt die Natur eine herausragende Rolle - etwa bei dem in der Ausstellung nur flüchtig dokumentierten World Peace Monument in Jerusalem, dessen hundert Meter hoch in den Himmel ragender lichtdurchfluteter Zylinder an James Turrells Roden Crater gemahnt. Es gilt aber auch für so ausgefallene (und leider nicht realisierte) Projekte wie das Museum der menschlichen Entwicklung in Burgos und das Guggenheim-Museum in Tokio, die beide in Gänze unter einem baumbewachsenen künstlichen Hügel verschwinden sollten: der eine mit grazilen weissen Gerüsten bestückt, die denen der Archäologen ähneln, der andere wie eine mit den Jahreszeiten wechselnde Wolke von an den späten Corot gemahnendem Kirsch- und Ahornflaum. Es gäbe noch viel zu sagen zu etlichen dieser Projekte - als Fazit vielleicht dieses: dass Nouvels Architektur oft viel besser ist als die ihm in Frankreich gewidmeten Ausstellungen und Texte.


[Bis 4. März 2002. Katalog: EUR 37.-.]

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