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Selbstinszenierungen am See
Neue Zürcher Zeitung

Ehrgeizige urbanistische Projekte in den Zentren der Tessiner Agglomerationen

Ende des 19. Jahrhunderts war man im Tessin für neue Formen des Urbanismus offener als in anderen Landesteilen. Damals entstand in Locarno mit dem schachbrettartig um die zentrale Fontana Pedrazzini organisierten Quartiere Nuovo die formal wohl konsequenteste Stadterweiterung der Schweiz. Danach aber schwand das Interesse an zukunftsweisender Stadtplanung.

2. März 2001 - Roman Hollenstein
In den siebziger und achtziger Jahren sorgte die Tessiner Architektur zwar international für Aufsehen, doch beschleunigte sie - gefördert vom lateinischen Autokult - nur die Zersiedelung mit all ihren negativen Auswirkungen auf Umwelt und Zusammenleben. Zum bedenklichen Symbol des individuellen Bewegungsdrangs wurde jüngst der gigantomanische Verkehrskreisel vor Locarnos mittelalterlichem Castello: die «Megarotonda» von Aurelio Galfetti. Da erstaunt es nicht, dass die autofreie Piazza Grande, für die Luigi Snozzi bereits Ende 1990 ein höchst durchdachtes Projekt vorlegte, bis heute Vision geblieben ist. Nun versucht man andernorts nach Jahrzehnten des suburbanen Wildwuchses die Innenstädte wieder aufzuwerten und neu zu ordnen. Ein erstes Resultat kann Bellinzona mit der Piazza del Sole vorweisen. Livio Vacchini verwandelte sie in einen Präsentierteller für das Castelgrande, das zentrale Schaustück des zum Welterbe avancierten Befestigungswerkes der Altstadt. Auch wenn die Härte irritieren mag, so besticht der durch vier Betonkeile definierte Platz doch durch seine rationalistische Klarheit.

Gleiches gilt leider nicht für die Ergebnisse eines Wettbewerbs, mit dem sich Ascona im vergangenen Jahr Anregungen für die Piazza am See erhoffte. Denn die meisten Entwerfer - auch der siegreiche Wahl-New-Yorker Raimund Abraham - verstellten mit überflüssigen «Accessoires» wie schwimmenden Plattformen oder wellenförmig in den See ausgreifenden Piers das Panorama. Selbst der formal zurückhaltende Vorschlag des zweitplacierten Rolando Zuccolo vermochte nicht wirklich zu begeistern. Da bleibt nur zu hoffen, dass die Vernunft siegt und man der Piazza ihren Charme lässt. Der Ausgang der Asconeser Ausschreibung liess kaum Gutes ahnen, als Lugano im Juni 2000 einen Wettbewerb auslobte zur Neugestaltung der an den «Salotto» der Stadt, die zentrale Piazza Riforma, angrenzenden Freiräume rund um den Palazzo Civico. Zu überdenken galt es die parkartige, in den vergangenen Jahren stark übernutzte Piazza Manzoni auf der Ostseite des Stadthauses, die westlich an dieses anschliessende Piazza Rezzonico sowie die Uferzone. Wie befürchtet, zeugt die Mehrzahl der 68 kürzlich jurierten Projekte vor allem von der Selbstverliebtheit der Planer und von deren Unfähigkeit, auf einen gewachsenen Ort zu reagieren. Die entwerferischen Fragwürdigkeiten reichen vom «Petersplatz» eines Mailänder Teams über die sinusförmigen Passerellen des Zürcher Büros Dürig und Rämi bis zu Mario Campis Wasserpromenade auf einem schwimmenden Autotunnel.

Glücklicherweise liess sich die Jury von solchen Machwerken nicht blenden und setzte die drei vernünftigsten Projekte auf die ersten Plätze. Die bestehenden Anlagen beidseits des Palazzo Civico interpretierte das drittrangierte Büro Giraudi & Wettstein am sorgfältigsten, obwohl man sich auch hier - wie bei fast allen Eingaben - fragen muss, ob auf der Piazza Rezzonico der alte Pinienbestand gefällt, der neobarocke Brunnen von Otto Maraini (dem Erbauer des heutigen Istituto Svizzero in Rom) verschoben und so dem einstigen Herzstück der Luganeser Uferpromenade der Geist des 19. Jahrhunderts ausgetrieben werden muss. Wenig gelungen ist bei diesem Projekt aber vor allem die etwas allzu selbstgefällig inszenierte Dachkonstruktion am See.

Da gibt sich das erstprämierte Projekt von Mauro Buletti und Paolo Fumagalli bescheidener - zumindest was die kleinen Kioskgebäude mit der transluzenten Gebäudehaut betrifft; monumental geraten ist hingegen das für Markt- und Konzertveranstaltungen gedachte, tischförmige Dach vor der Piazza Manzoni, das als Scharnier zwischen dem östlichen Lungolago und der rasterartig durchgestalteten, den Palazzo Civico dreiseitig umfassenden Platzanlage dient. Diese überzeugt zwar im Plan und im Modell. Doch scheinen die beiden Architekten, obwohl sie in Lugano ansässig sind, die Bedürfnisse der Benutzer nicht erkannt oder aber bewusst ihrem formalistischen Gestaltungswillen geopfert zu haben. So dünnen sie den alten Baumbestand aus und opfern den wegen seiner Kühle beliebten Springbrunnen einer am See völlig überflüssigen Wasserfläche.

Auch wenn keines der Luganeser Projekte ganz befriedigen kann, so würde sich eine kritische Überarbeitung des Entwurfs von Buletti und Fumagalli lohnen. Ohne eine Verkehrsberuhigung der Uferzone ist allerdings dieser neue Platz nicht machbar. Wenn in Locarno Parkplätze das Projekt Snozzi bis jetzt verhinderten, so ist die Gefahr gross, dass der rollende Verkehr die Luganeser Planungen bereits im Keim ersticken wird. Das wäre schade: Denn schon jetzt zeigt sich jeweils im Sommer, wenn der für die Autos gesperrte Quai zum abendlichen Corso wird, das soziale Potenzial einer Piazza am See. Diese könnte zudem anderen Städten zum Vorbild dienen: nicht zuletzt Zürich, das mit seinem Sechseläutenplatz ebenfalls den Schritt ans Wasser wagen sollte.


[Die Projekte für eine Piazza am See rund um den Palazzo Civico von Lugano sind am 4. März von 14.00 bis 18.30 Uhr im MAC 7 an der Via Campo Marzio in Lugano zu sehen.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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