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Laisser-faire in Stadt und Land
Neue Zürcher Zeitung

Aspekte von Österreichs Raumplanung im Zeitalter der Globalisierung

2. März 2001 - Reinhard Seiß
In den letzten zwanzig Jahren hat sich Österreich als eine der führenden Architekturnationen Europas einen Namen gemacht. Im Schatten der baukünstlerischen Höhenflüge sieht aber die raumplanerische Realität des Landes eher nüchtern aus.

War es Österreichs EU-Beitritt von 1995, der den vermeintlich wirtschaftlicheren Grossstrukturen Vorrang vor nachhaltigen regionalen Systemen gab? Ist es die Schuld der neuen Rechtsregierung, die private Interessen über das Gemeinwohl stellt und den öffentlichen Einfluss beschneidet? Oder ist der schon länger zu beobachtende Rückzug der Politik aus ihrer Verantwortung die Ursache dafür, dass sich das Land vielfach entgegen raumplanerischer, volkswirtschaftlicher und ökologischer Vernunft entwickelt?


Verkehr und Suburbanisierung

Auslagerung und Privatisierung sind seit den frühen neunziger Jahren oft gehörte Schlagworte (nicht nur) österreichischer Politiker. Was mit dem Ziel begann, ausgewählte Bereiche einer teilweise trägen und ineffizienten Verwaltung flexibler und kostengünstiger zu gestalten, ist mittlerweile zur Strategie der Regierenden verkommen, unbequeme Entscheidungen zu entpolitisieren. Mit der Eisenbahn etwa lässt sich in Österreich schon lange kein Staat mehr machen: chronische Defizite, unpopuläre Privilegien der Bediensteten, geringer Stellenwert in der Gesellschaft. Was lag also näher, als die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) zu «privatisieren» - vereinfacht gesagt, die verkehrspolitische Verantwortung für den Schienenverkehr an ein Management zu delegieren, die Verluste aber nach wie vor aus öffentlichen Haushalten zu begleichen. Raumordnungsprogramme und Verkehrsleitbilder, die eine Förderung der Eisenbahn als ökologische Alternative zum überzogenen motorisierten Individualverkehr fordern, haben einen schweren Stand. Von Verkehrspolitik kann aber auch auf Österreichs Strassen keine Rede sein. Alles, was der Entfaltung des Autos schadet, wird in Österreich mit wirtschaftlichem und technologischem Rückschritt, Verlust an Freiheit und Lebensqualität gleichgesetzt - an den Stammtischen ebenso wie in den Parlamenten. Kostenwahrheit im Verkehr hin, Klimaschutzkonvention her.

Die Zersiedelung des ländlichen Raums, die Suburbanisierung des Stadtumlands, die schwindende Lebensqualität und Urbanität der Kernstädte werden zwar als Probleme erkannt, der Motor dieser Entwicklung - der nahezu sakrosankte Automobilismus - wird aber weiterhin am Laufen gehalten. Die Wiener Stadtplanung zum Beispiel legte 1994 ein umfassendes Verkehrskonzept vor, das ein Zurückdrängen der Autos zugunsten der Fussgänger, Radfahrer und des öffentlichen Verkehrs als Ziel ausgab. Parallel dazu wurden im Stadtentwicklungsplan verkehrsvermeidende Stadtstrukturen mit Nahversorgung sowie eine Stadterweiterung entlang wichtiger Schienenstränge angestrebt. Ungeachtet dessen sind seit Mitte der neunziger Jahre aber zahlreiche Einkaufszentren am Stadtrand genehmigt, Siedlungen fernab bestehender Erschliessungen errichtet und Strassenverbindungen projektiert und ausgebaut worden.

Beinahe schon als Provokation der Raumplanung auszulegen ist der Beschluss der Stadt Wien, in Kleingartenanlagen - traditionell als Grün- und Erholungsflächen gewidmet - dauerhaftes Wohnen und damit den Ausbau kleiner Gartenhütten zu ermöglichen. So erzeugt die Politik mit populistischen und kurzsichtigen Entscheidungen räumliche Strukturen, die wegen der oft abgelegenen Standorte zu hohen öffentlichen Erschliessungskosten sowie zu dauerhaften Versorgungsproblemen (Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit) führen. Zudem werden Naherholungs- und ökologisch wichtige Ausgleichsflächen den Wohnvorstellungen einiger weniger geopfert.


Planungsprobleme

Planung scheint generell nicht mehr im Trend zu liegen. Dies zeigt der Wiener Hochhausboom, der seit einem Jahrzehnt herrscht, ohne dass die Planungsgremien über verbindliche Richtlinien zur Genehmigung solcher Projekte verfügen: Es gibt keinerlei Reglement bezüglich Höhen, Formen, Nutzungen, Standort und Umfeld. Baubewilligungen für Hochhäuser gründen mehr oder weniger auf Ermessensentscheidungen, das Bauvolumen - sprich die Gewinnspanne des Investors - hängt von der Gunst des jeweiligen Bezirks- oder Stadtpolitikers ab.

Die Donaumetropole stellt damit keine Ausnahme dar. Bis in die kleinsten Gemeinden setzt sich politisches Kalkül als Massgabe der räumlichen Entwicklung fort. Dazu kommt bei vielen Landkommunen, dass die Entscheidungsträger kaum über planerische Kompetenz, aber dennoch über ein hohes Mass an Planungsautonomie verfügen. So betreiben viele Gemeinden eine «Kirchturmpolitik» - Ansätze zu interkommunaler Kooperation und einer Abstimmung der Siedlungsentwicklung stecken noch in den Kinderschuhen. Dieses Problem gewann in den letzten Jahren zusätzliche Brisanz, als Investoren begannen, mit Grossprojekten durch das Land zu ziehen, um die günstigsten Standorte für ihre Shopping- und Entertainment-Centers, ihre Adventure-Parks und Factory-Outlets zu finden. Deren Auswirkungen reichen weit über die jeweiligen Verwaltungsgrenzen hinaus, seitens der Regionalplanung gibt es aber kaum Steuerungsmöglichkeiten oder Instrumente des Ausgleichs.

Zwischen kommunalen Partikularinteressen einerseits und einer völlig zersplitterten Bundeskompetenz andererseits stehen die neun Bundesländer Österreichs. Sie bilden die eigentlich zuständige, gesetzgebende Ebene in der Raumplanung. Das heisst, es gibt in Österreich neun verschiedene Raumordnungsgesetze, was die immer notwendiger werdende Zusammenarbeit zwischen den Landesregierungen dementsprechend erschwert. Da die Raumplanung als überaus komplexe Materie zwischen Bauwesen, Verkehr, Umwelt- und Naturschutz, Industrie, Handel und Tourismus, Land- und Forstwirtschaft, Wasserrecht und Bergbau zum Teil aber wiederum in die verschiedensten Zuständigkeitsbereiche der Bundesregierung fällt, kann man sich leicht vorstellen, wie gross die Reibungsverluste durch die politischen und administrativen Strukturen sind. Der EU-Beitritt förderte ein weiteres Problem zutage: Österreichs Raumplanung ist in Brüssel sowie bei allen grenzüberschreitenden Programmen und Projekten der Gemeinschaft nicht geschlossen mit einer Stimme vertreten. Nicht nur deshalb mehren sich die Stimmen, die eine übergeordnete, gesamtstaatliche Planungsebene fordern, ohne damit zwangsläufig die dezentrale Verwaltung der Länder substanziell zu beschneiden.

Welche Rolle nimmt die Bevölkerung im Planungsprozess beziehungsweise in der Planungspolitik ein? Die Österreicher sind weder gewohnt, sich - wie die Schweizer - periodisch über die Entwicklung ihres Lebensraums an der Wahlurne zu artikulieren, noch haben Bürgerinitiativen eine grosse Tradition im Land. Jene Zukunftsfragen, für die sich landesweit eine breite Öffentlichkeit politisch engagiert hat, sind rasch aufgezählt: Allen voran steht die Ablehnung der Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf 1978. In Erinnerung geblieben ist auch noch der Protest gegen die Rodung einer - mittlerweile zum Nationalpark erklärten - Aulandschaft für die Errichtung eines Wasserkraftwerks an der Donau 1984.

Vor allem seit den neunziger Jahren ist zu beobachten, dass das Interesse an der Gestaltung der gemeinsamen Umwelt noch weiter abnimmt. Damit einher geht das schwindende Verständnis für Massnahmen, die im Dienste der Allgemeinheit die individuelle Freiheit beschränken. Raumplanung wird also vielfach als Verbot oder Verhinderung empfunden: Planer untersagen das Bauen im Grünland, Planer wettern gegen die bunte Welt der Einkaufszentren, Planer sind für Strassenrückbau verantwortlich. Dass Raumplanung die persönlichen Ansprüche der Bürger koordiniert und somit ihre Erfüllung auf breiter Basis erst ermöglicht, wird von einer zunehmend ichbezogenen Gesellschaft mehrheitlich ignoriert.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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