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Utopie und Realität
Neue Zürcher Zeitung

Berlin im Banne von Schinkels Klassizismus

10. April 2001 - Roman Hollenstein
Szenengeheul und bauliche Verirrungen sorgen in Berlin stets für neuen Zündstoff. Gleichzeitig aber steht Schinkels Erbe immer noch für Kontinuität. Davon zeugen zurzeit zwei Ausstellungen, die Diskussion um den Wiederaufbau der Bauakademie, Gehrys DG-Bank beim Brandenburger Tor sowie die Projekte für die Museumsinsel.

Neben einer zeitgeistigen Szene ist es vor allem das rasant sich wandelnde Stadtbild, das Berlin-Besucher fasziniert und irritiert. Längst hat man sich daran gewöhnt, dass hier um fast alles gestritten und debattiert wird - bis hin zum ebenso leidigen wie überflüssigen Wiederaufbau des Stadtschlosses. Dessen Anhänger vergessen nur allzu leicht, dass nicht das Schloss das architektonische Herz der Stadt ist, sondern das Alte Museum. An diesem Meisterwerk von Karl Friedrich Schinkel haben sich Generationen von Baukünstlern gemessen: selbst Mies van der Rohe, der sich in den sechziger Jahren - von Chicago aus - mit der Neuen Nationalgalerie tief vor Schinkel verneigte.

Klenze bei Schinkel
Nun bietet Schinkel, der Übervater des deutschen Klassizismus, in seinem vornehmsten Haus dem Grossmeister des Münchner Klassizismus Gastrecht. Mit Leo von Klenze feiert die aus München importierte Schau (NZZ 12. 8. 00) im Alten Museum jenen Architekten, der die süddeutsche Residenzstadt in ein Athen an der Isar verwandelte. Die an der Spree in reduzierter Form gezeigte Retrospektive fordert zum Vergleich des Alten Museums mit Klenzes Galeriebauten heraus und beweist so die Modernität der gleichsam als Ausstellungsmaschine konzipierten Alten Pinakothek in München mit ihren wegweisenden Oberlichtsälen. Neben hervorragenden Dokumenten zu Klenzes Œuvre präsentiert die Ausstellung auch Höhepunkte des preussischen Klassizismus, etwa die berühmte Gouache von Friedrich Gillys nie gebautem Denkmal für Friedrich II. Diese Inkunabel des deutschen Klassizismus deutet an, was aus Berlin hätte werden können, wenn um und nach 1800 an der Spree eine ähnliche Baueuphorie geherrscht hätte wie heute. Doch Schinkel, der Erbe des jung verstorbenen Gilly, musste sich mit partiellen Interventionen ins spätbarocke Stadtgewebe zufrieden geben. Wozu er als Architekt und Urbanist fähig gewesen wäre, veranschaulicht in der Klenze-Schau das im Krieg verlorene Gemälde «Blick in Griechenlands Blüte» in der Kopie von Wilhelm Ahlborn.

Dennoch kann Berlin mit einer derart reichen Palette an Schinkel-Bauten aufwarten, dass man beim Namen Schinkel sogleich an diese Stadt und ihr Umland denkt: an das Schloss Charlottenhof, das Gärtnerhaus und die Nikolaikirche in Potsdam, die mediterrane Anlage in Glienicke, das Humboldtschlösschen in Reinickendorf, vor allem aber an das Alte Museum, die Schlossbrücke, die Neue Wache, die Friedrichswerdersche Kirche und das Schauspielhaus im Bezirk Mitte. Dabei gehen die bedeutenden Berliner «Vorstadtkirchen» meist ebenso vergessen wie die zahllosen Arbeiten im einst preussischen Herrschaftsbereich von Aachen bis ins ostpolnische Wielbark. Dieser kaum bekannten Vielfalt ist gegenwärtig in der Kunstbibliothek eine durch Pläne, Zeichnungen und Spolien angereicherte, von einem opulenten Begleitband dokumentierte Ausstellung mit hervorragenden Fotos von Hillert Ibbeken gewidmet. Sie veranschaulicht den heutigen Zustand von rund 150 Bauten - darunter viele nie gesehene Landkirchen - und zeigt damit selbst manchen Schinkel-Kennern einen ganz neuen Künstler.

Die Schau beweist, dass trotz Kriegsverlusten ein reicher Schinkel-Bestand erhalten geblieben ist. Die schwer beschädigte Bauakademie allerdings, die gemeinhin als sein modernster Bau bezeichnet wird, musste dem DDR-Aussenministerium weichen. Doch jetzt verheisst die von Baufachschülern am Originalstandort wiederhergestellte Nordostecke die Wiedergeburt dieses Meisterwerks. Angesichts des in Berlin immer lauter werdenden Rufs nach der Rekonstruktion verlorener Bauten dürften gewisse Schinkel-Verehrer bald auf den Gedanken kommen, auch dessen nie realisierten späten Projekten Leben einzuhauchen. Das Planmaterial existiert ja - und das Geld scheint hier - ausser bei Zumthors Topographie des Terrors - ohnehin keine Rolle zu spielen. Am Wannsee liessen sich die Plinius-Villen verwirklichen. Für das auf der Krim geplante Zarenschloss Orianda fände sich vielleicht eine Felsenklippe an der Ostsee, während die archäologisch nicht ganz korrekte Vision eines Königspalastes auf der Akropolis schon von Klenze als nicht realisierbarer, gleichwohl aber «wunderbarer Sommernachtstraum» bezeichnet wurde. So wird man denn gescheiter von diesen mediterranen Phantasien weiterhin nur träumen, zumal einem dabei der jüngst bei Axel Menges erschienene, attraktiv ausgestattete und von Klaus Jan Philipp sachkundig kommentierte Doppelband zu Schinkels «Späten Projekten» hilft.

Berlins neuer Klassizismus
Nicht nur die Sehnsucht nach der verlorenen Bauakademie zeigt, dass gut 200 Jahre nach Gillys und 160 Jahre nach Schinkels Tod noch immer ein klassizistischer Hauch durch Berlins Strassen weht. Mit der auf den Pariser Platz gerichteten Fassade der DG-Bank, die mit ihrer sorgsam ausgewogenen Steinkonstruktion weit überzeugender als Kleihues' Annexbauten den Säulenhallen von Langhans' Brandenburger Tor antwortet, fand der Formzertrümmerer Frank Gehry zu einem ebenso zeitgemässen Klassizismus wie Roger Diener in der zu Unrecht vielgeschmähten, von Gunnar Asplunds Göteborger Rathaus hergeleiteten Erweiterung der Schweizer Botschaft. Verglichen mit diesen Arbeiten stellen Axel Schultes' geschmäcklerische Säulenhalle des Treptower Krematoriums und die Glastempel von Hilmer und Sattler über den Aufgängen des Bahnhofs Potsdamer Platz einen höchst fragwürdigen Flirt mit dem klassizistischen genius loci dar und sind im Grunde nur ein dürftiger Abglanz von Louis Kahn und Mies van der Rohe.

Interessant wird sein, wie David Chipperfield seine Aufgabe auf der Museumsinsel lösen wird, die derjenigen der Schweizer Botschaft nicht unähnlich ist. Während Stülers Alte Nationalgalerie aussen bereits saniert und innen nun mit grösstem Aufwand als edler Rahmen der Sammlung des 19. Jahrhunderts hergerichtet wird, soll die benachbarte Kriegsruine von Stülers Neuem Museum demnächst von Chipperfield zeitgenössisch ergänzt werden. Grossartig wäre es freilich, wenn der Karyatiden-Saal und der Römische Saal, die beide samt Freskenresten noch erstaunlich gut erhalten sind, in ihrem heutigen Zustand konserviert werden könnten durch eine Renovation, die - ähnlich wie die Londoner Studio-Umbauten von Caruso St John - alle Spuren der Geschichte bewahren würde und künftig für skulpturale Werke genutzt werden könnte.

Von Chipperfield darf man erwarten, dass er mit den Stüler'schen Bauresten sorgsamer umgehen wird als Ungers mit dem Pergamon-Museum. Die enormen Ausgaben für die vom Kölner Altmeister geplante, den Ehrenhof abschliessende Pfeilerhalle, könnte man getrost sparen. Dann könnte zudem die vor 20 Jahren errichtete Eingangshalle erhalten bleiben, die eine seltene Reverenz der DDR an Mies' Nationalgalerie und damit indirekt auch an Schinkel darstellt. Weit behutsamer als Ungers gehen die Berliner Landschaftsarchitekten Levin Monsigny mit dem Weltkulturgut Museumsinsel um: Ihr siegreicher Vorschlag für die Gestaltung des Grünraums rund um die Alte Nationalgalerie findet nicht nur zu einer dem Bauerbe adäquaten Sprache. Er lässt zudem das Museum als Stülers Antwort auf Friedrich Gillys ungebautes Monument für Friedrich II. wiedererkennen und verweist mit der «Neugierde», einem in den Spreekanal vorkragenden Aussichtsbalkon, einmal mehr auf Schinkel: nämlich auf dessen «Grosse Neugierde» im Park von Schloss Glienicke.


[Klenze-Ausstellung im Alten Museum bis 29. April. Katalog: Leo von Klenze. Architekt zwischen Kunst und Hof. Hrsg. Winfried Nerdinger. Prestel-Verlag, München 2000. 540 S., Fr. 137.- (DM 58.- in der Ausstellung). - Schinkel-Ausstellung in der Kunstbibliothek bis 30. April. Begleitbuch: Karl Friedrich Schinkel. Das architektonische Werk heute. Hrsg. Hillert Ibbeken und Elke Blauert. Edition Axel Menges, Stuttgart 2001. 348 S., Fr. 186.- (DM 98.- in der Ausstellung). - Klaus Jan Philipp: Karl Friedrich Schinkel. Späte Projekte. 2 Bde. Edition Axel Menges, Stuttgart 2000. 112 u. 128 S., Fr. 348.-. ]

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