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Es ist, was es war.
Der Standard

Während Wien seine Ernennung zum Weltkulturerbe feiert, werden in Afghanistan jahrtausendealte Kulturen zerstört. Ein vergessenes Buch dokumentiert die Reste einer vergessenen Welt.

22. Dezember 2001 - Ute Woltron
Die christliche Welt feiert Weihnachten, wie sie eben Weihnachten feiert. Mit Pomp und Einkaufsstress. Irgendwo in der Wiener Innenstadt ein Buchladen. Bummvoll, Gedränge. Im untersten Geschoß reißt man sich um die Schätze abendländischen Kunst- und Kulturschaffens in Prachtbandform, dazwischen bleibt ein schlichter Band unbeachtet. Er beschreibt Afghanistan, und zwar „Landschaft. Menschen. Architektur.“

Die Reihenfolge ist logisch und richtig, wenn nach der Architektur der Mensch wieder drankommt, zerbricht meistens etwas im Gefüge. Das Buch ist nicht neu, und es ist nicht alt, weil alles ist relativ auf dieser Welt. Der Wiener Architekt Karl Wutt hat es geschrieben und 1981 auf den Markt gebracht. Damals zerbombten gerade die Sowjets das, was er darin beschrieben hat. Jetzt sind wieder andere dran.

Die Wiener Innenstadt wurde soeben von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Auch ein paar Dörfern im Nordiran, mindestens dreimal so alt, wurde diese Ehre vor geraumer Zeit zuteil. Sie ähneln sehr stark den prachtvollen Gebirgsdörfern nordöstlich der afghanischen Hauptstadt Kabul, wie Wutt sie auf seinen Reisen in den 70er-Jahren noch gesehen und großteils intakt vorgefunden hat. Erst war die Landschaft da, dann die Menschen, dann die Architektur. Ob heute überhaupt noch Spuren dieser, schon lange vor der Islamisierung geblüht habenden Kulturen übrig sind, kann außerhalb der afghanischen Grenzen schon seit Jahren keiner wirklich sagen. Die Presseagenturen begnügen sich damit, von Siegen, Niederlagen, gebrochenen Hüften amerikanischer Helden, von untergetauchten Terroristen und potenziellen Machtübernahmen zu berichten. Keine Nachricht weit und breit über das Schicksal der Leute, die in den Bergen ihr karges, und wie Wutt beschreibt, gastfreundlich-fröhliches Dasein fristen. Doch die Nachrichten werden kommen, spätestens wenn man den Bau der Ölpipelines wieder aufgenommen hat.

Wutts epische Erzählungen über die Leute, ihre Bräuche, ihre Eigenarten und ihre einfachen, eindrucksvollen Häuser schlängeln sich durch diverse Täler des ostafghanischen Hindukuschvorlandes zwischen der Jalalabad-Senke und Nuristan. Es ist nicht einfach, sich mit den zahlreichen erwähnten Bevölkerungsgruppen, ihren unterschiedlichen Sprachen und Religionen zurechtzufinden. Doch das macht nichts, denn die Bilder, Zeichnungen und Fotografien des Bandes sprechen eine klare, einfache Sprache. Die Architektur, die hier zu sehen ist, stammt großteils aus der vorislamischen Zeit, die hier vor ein paar Hundert, dort vor vielleicht einem Dutzend Jahren zu Ende gegangen ist, weil der Islam sich zwar schon vor tausend Jahren in den Ebenen festsetzte, doch nur langsam in das unzugängliche Bergland einsickerte, und alles Gebaute hier ist von archaischer Schönheit. Vor allem die Details, die Holzkonstruktionen, die Steinschichtungen, die zierlichen, überreichen Schnitzereien sind bestechend. Doch auch die, wie der Westler sagen würde, städtebaulichen Konzeptionen sind hochinteressant. Sie passen perfekt in die Landschaft und sind in ihrer vermeintlichen Armut an keiner Stelle armselig.

Was gelegentlich auf den ersten Blick zwar wie eine Ansammlung ärmlicher Hütten erscheinen mag, offenbart dem aufmerksamen Betrachter eine raffinierte, praktisch und sozial klug angelegte Lebensstruktur, die einen optimalen Lebensraum für einen Dorforganismus inmitten rauer Hochgebirgsnatur schafft. Jedes Hausdach ist zugleich die Terrasse des Nachbarn, und dass das Miteinanderleben hier auf engem Raum nach feinen Gesetzmäßigkeiten ablaufen muss, so es funktionieren soll, versteht sich von selbst. Wutt beschreibt auch diese komplizierten ungeschriebenen Regeln des Gebens und Nehmens und die unbewussten, unbeholfenen Verstöße des uneingeweihten Gastes dagegen. Er selbst kam zum Beispiel nicht ohne Ziegen durch das Land, denn geben muss, wer nehmen will, und gefeiert wurde oft, überall und großzügig.

Der Charakter dieser Feste war gerade im Begriff, sich zu verändern, als der Architekt die Täler bereiste. Als er einmal in einem Ort namens Oigal traditionelle Gesänge aufnehmen wollte, holte man einen blinden Mullah, der „mit wirklich gewaltiger Stimme das Auf und Ab der Koranrezitation“ zum Besten gab. Arabisch verstand zwar keiner, so Wutt, „aber die Wirkung auf die Gemüter war groß“. Zufälligerweise setzte gleich nebenan gleichzeitig ein heftiges Getrommle und Wechselgesinge ein, das von den Gastgebern verschämt ignoriert wurde. Es handelte sich dabei um ein traditionelles nicht islamisches nandara zu Ehren des neugeborenen Sohnes eines Khans.

Von „ehrlichen Konstruktionen“, schreibt Wutt, wäre in seiner Architekturstudentenzeit in Wien oft die Rede gewesen, von „Ingenieuren und Konstrukteuren, die - im Dienste eines Bauherren - alles unter einen Hut bringen konnten“. Die Reise nach Afghanistan tat er, „um der Freudlosigkeit meiner Ausbildung zu entkommen“. „Spätestens dort gingen einem Architekturstudenten die Augen auf, und er erfuhr die Wahrheit über gute Architektur im ,Basar der Märchenerzähler' (...) Ich stellte mir die alte Frage, wodurch in Städten wie Wien der Überfluss so armselig erscheint und auf Kosten des Allernotwendigsten besteht, auch um den Preis jener Armut, die etwa in Peshawar herrscht - und die der europäische Tourist wie ein Paradies erlebt, dessen Blumen und Früchte einfach vor ihm an den Straßenrändern ausgebreitet sind.“ Weltkulturerbe. Aber anders.


[Karl Wutt: Pashai. Landschaft. Menschen. Architektur., Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, Graz, 1981, öS 344,-/EURO 25,- / 144 Seiten]

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