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Gestalt gewordene Sozialutopie

Wenn die Wirtschaft nichts mehr mit uns anfangen kann, müssen wir uns anderweitig umschauen

1. August 2001 - Roderick Hönig
«Wenn die Wirtschaft nichts mehr mit uns anfangen kann, müssen wir uns anderweitig umschauen.» Auf diesem Grundsatz der Gruppe Kraftwerk 1 aus dem Jahre 1993 basiert ein Bauprojekt im ehemaligen Zürcher Industriequartier. Acht Jahre später haben sich rund 450 Menschen zwölf Tramminuten vom Hauptbahnhof entfernt den Traum vom massgeschneiderten Wohnen (300) und Arbeiten (150) im Trendquartier erfüllt. Der trotzige Slogan stiess bei Erscheinen des Manifests der damals noch kleinen Interessengemeinschaft auf unerwartet grosse Resonanz: Mehrere hundert Personen füllten den Optionsschein im Büchlein aus und legten damit den Grundstein für die Genossenschaft Kraftwerk 1 und für die Realisierung einer Sozialutopie.

Die Baugenossenschaft Kraftwerk 1 setzte sich aber nicht nur zum Ziel, günstige und ökologische Wohn- und Gewerbeflächen zu bauen, sie lancierte auch ein gross angelegtes Wohnexperiment. Was ist daran anders? Es ist auch die Architektur, aber vor allem, was darin steckt: Die rund 110 Wohneinheiten auf über 10 000 Quadratmetern Fläche richten sich nicht an die Standardfamilie, sondern tragen mit ihrer ausserordentlichen Vielfalt an Wohnungsgrössen - zur Auswahl stehen ein bis dreizehn Zimmer - den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre Rechnung. Zum Beispiel, dass Wohnen und Arbeiten nicht mehr zwingend räumlich getrennt sind. Oder dass man miteinander unter einem Dach wohnen, aber trotzdem seine eigenen vier Wände haben will. Deshalb ist es möglich, mehrere Wohnungen zu sogenannten Suitengemeinschaften zusammenzuschliessen.

Ein anderes Modell sind die Riesenwohngemeinschaften: Bis zu 20 Menschen können in einer der fünf übergrossen Wohnungen ihre Lebens- und Arbeitsbereiche miteinander verknüpfen. Zimmer von mindestens 14 Quadratmetern Fläche, grosszügige gemeinsam genutzte Räume und teilweise zwei Küchen pro Haushalt machen Rückzug und Zusammenleben nicht zu einem Müssen, sondern zu einem Dürfen. Dazu gibt es in der Anlage Gästezimmer, Gemeinschaftsraum auf der Dachterrasse, Kindergarten und Hort, Ateliers, Waschsalon, Coiffeur, Blumen- und Früchteladen, Restaurant oder Nähatelier.

Doch an der Hardturmstrasse haben sich nicht ausschliesslich linksalternative und bewusst solidarische Menschen (jeder Bewohner bezahlt einen Solidaritätsbeitrag für Wenigerverdienende, gemeinsam genutzte Räume und Ökomassnahmen) gefunden. Denn schon die Charta aus dem Jahre 1997 klingt - gegenüber den kämpferischen Slogans des Manifests - etwas milder: «Wir können uns vorstellen, ohne Auto auszukommen, Autofreaks aber nicht auszugrenzen», steht dort beispielsweise. Viele Bewohner von Kraftwerk 1 verzichten deshalb auch nicht auf ein Auto, sondern teilen sich mittels Mobility Car Sharing mehrere Wagen, die in der hauseigenen Tiefgarage stehen.

Die Immobilienkrise stand bei der Realisierung des Projekts Pate. In den neunziger Jahren fielen wegen des Überangebots an Büroflächen die Bodenpreise im Industriequartier zusammen, die Bauzinsen und -kosten sanken, und die Immobilienfirmen waren ratlos, wussten nicht, was sie mit den ausrangierten Industriearealen anfangen sollten. Die linke Baugenossenschaft wurde deshalb schnell zu einem ernst zu nehmenden Partner, auch für mächtige Immobilienfirmen.

Konkret wurde es 1998: Nachdem sich schon mehrere Architekten und Investoren die Zähne am Areal ausgebissen hatten, fanden sich die Genossenschaft Kraftwerk 1, Oerlikon-Bührle Immobilien (heute Allreal Generalunternehmung) sowie die beiden Zürcher Architekturbüros Bünzli & Courvoisier und Stücheli Architekten zu einem pragmatischen Team zusammen.

Doch die 7755 Quadratmeter grosse Parzelle war nicht nur industriell, sondern auch planerisch vorbelastet: Wer auf dem Grundstück bauen wollte, musste das nach einem alten städtischen Gestaltungsplan tun. Dieser legt Grösse und Lage der vier Baukörper zwingend fest. Die Folge: Die Architekten konzentrierten sich vor allem auf die innere Organisation.

Das spektakuläre Innenleben des zentralen achtgeschossigen Baukörpers ist von aussen kaum sichtbar. Seine schroffe, mit dunklem Klinker verkleidete Backsteinhaut und der regelmässige Fensterraster lassen nicht auf den komplexen Aufbau schliessen.

Im Inneren kreuzen sich zwei Erschliessungssysteme: In der Vertikalen verbinden vier Treppen- und Lifttürme oben und unten. Im Erdgeschoss, im dritten und im sechsten Obergeschoss verbinden das Haus in der Längsachse - analog Le Corbusiers Unité d'habitation - sogenannte rues intérieurs.

Die Architekten nutzen die Möglichkeiten, die die Schottenbauweise bietet, und schaffen es, zwei- oder mehrgeschossige Maisonnettewohnungen, Durchschusswohnungen (ihr grösster Raum erstreckt sich über die gesamte Gebäudetiefe von 17 Metern), loftartige Einheiten sowie Apartments mit gegeneinander versetzten Geschossen in einem Baukörper unterzubringen. Am schönsten sind die Maisonnettewohnungen: Sie haben gegen den Hof jeweils einen luftigen, überhohen Raum, der die oberen und unteren Räume der Wohnung miteinander verbindet. Der Trick liegt im Schnitt: Dort, wo sich auf der Westseite vier Geschosse erstrecken, sind auf der Ostseite nur drei Geschosse untergebracht.

Dass innovativer Wohnungsbau nicht nur günstig, sondern auch ökologisch sein kann, beweist Kraftwerk 1 ganz nebenbei: Der Gesamtenergieverbrauch der vier Bauten beträgt rund ein Drittel des derzeitigen Durchschnitts der Häuser in der Schweiz und erreicht damit den Minergie-Standard. Die Anlagekosten betragen rund 50 Millionen Franken, die Mieten liegen rund 20 Prozent unter dem derzeitigen Durchschnitt von Neubauten. Eine zweigeschossige 8½-Zimmer-Wohnung mit rund 240 Quadratmetern Wohnfläche kostet beispielsweise 4378 Franken pro Monat inklusive Nebenkosten. Einzurechnen ist noch das Genossenschafts-Anteilscheinkapital: Es beträgt für diese Wohnung 102 000 Franken.

Kraftwerk 1 ist Ausdruck einer anderen Auffassung der Gesellschaft. Das Projekt richtet sich gegen monotone Einfamilienhausquartiere und anonyme Wohnblöcke. Es ist auch eine Reaktion auf den spekulativen Wohnungsbau der achtziger und neunziger Jahre. Ob es bald Kraftwerk 2 oder Kraftwerk 3 geben wird, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass in Zürich 450 Menschen eine andere Wohnform gesucht und sie im ehemaligen Industriequartier gefunden haben.

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