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Benidorm als Modell
Neue Zürcher Zeitung

Paradoxe Rehabilitierung eines massentouristischen Ungeheuers

14. August 2001 - Markus Jakob
Der Name Benidorm steht für Pauschaltourismus, für Sonne und Suff zu Schleuderpreisen und für eine zubetonierte Küste. Den Verächtern dieses Modells unterläuft indessen ein Denkfehler. Denn nirgendwo wird, gemessen an der Besucherzahl, weniger Raum verschwendet, weniger Land verbaut als in dieser Hochhausstadt nördlich von Alicante, die auf fünf Quadratkilometern jährlich vier Millionen Gäste aufnimmt.

Gibt es ein grossartigeres Beispiel für eine vernünftige, vergleichsweise umweltschonende Kanalisierung des Massentourismus als das dicht bebaute Benidorm? Zwar sieht der negative Mythos in Benidorm, wo kaum Regen fällt, ein Beispiel für die aberwitzige Verschleuderung nicht vorhandener Wasserressourcen. Doch weit gefehlt: Erstens werden nur 140 Liter pro Gast und Tag verbraucht (deutlich unter dem europäischen Durchschnitt), und zweitens ist die Stadt im Recycling weltweit führend: 97 Prozent werden als Brauchwasser wiederverwendet. Die Unesco organisiert gelegentlich Studienreisen nach Benidorm. Vor allem aber hat Benidorm einen ganz eigenen Bautypus hervorgebracht. Es sind extrem schlanke und daher um so höher wirkende Türme, von denen in Wirklichkeit nur sechs die 100-Meter-Marke übertreffen. Das höchste Gebäude ist mit 185 Metern (Europarekord für einen Wohnbau) das Hotel Marina Palace. Aber die Höhe ist gar nicht der entscheidende Faktor. Wichtiger ist die geringe Gebäudetiefe: gewöhnlich nicht mehr als neun oder zehn Meter, was reichlich Tageslicht für alle Zimmer sowie eine gute Querbelüftung gewährleistet. Die Rückseite bleibt der Haustechnik, Treppenhäusern und Aufzügen vorbehalten, meerseitig aber prägen ganze Kaskaden von Balkons die Stadt - Wintergärten eigentlich, denn in vielen Fällen macht eine vorgelagerte Glasfront die Heizung überflüssig: Auch im Januar steigt die Temperatur tags meist über 20 Grad.

Visionäre Planung
Es ist also das Hygiene-Modell des freistehenden Blocks, dem Mittelmeerraum im Grunde fremd, das sich in diesen janusgesichtigen Türmen verwirklicht findet. Fast immer gehört ein Swimmingpool dazu - 500 davon soll es in Benidorm geben. Gleichsam das Unterholz dieses Säulenwalds bilden die unzähligen Pizza- und Souvenirtempel. Wenn es auch oft illegale Konstruktionen sind, so haben sie doch den Vorzug, den Strassenraum zu schliessen, städtische Korridore zu bilden. Denn eben die Dichte, die teilweise anarchische Kompaktheit sind es, die den Feriengästen ein Lebensgefühl vermitteln, das sie zu Hause in ihren öden Suburbs vermissen. Wer zur Stadtgeschichte Näheres erfahren möchte, dem wird, nebst allerlei Prospekten, auf dem Planungsamt das Büchlein «Ayuntamiento de Benidorm. Ordenanzas de Construcción. Año 1955» ausgehändigt. Es ist ein Nachdruck jener Bauordnung, die angeblich das Erfolgsgeheimnis birgt. Die Stadt pflegt inzwischen ihren eigenen urbanen, ja urbanistischen Mythos - schon die Schulkinder werden mit einer Broschüre versorgt, die den Titel trägt: «Die Planung unserer Stadt und was wir darüber wissen müssen».

Um 1950 war Benidorm ein Fischerdorf von knapp 3000 Einwohnern, auf einem kleinen, von einem Kastell gekrönten Kap zwischen zwei jungfräulichen Stränden gelegen. Der alte Kern mit seinen engen Gassen bildet bis heute, wenngleich schwindelerregend kommerzialisiert, das Stadtzentrum. Die Strände und das milde, regenarme Klima hatten seit dem 19. Jahrhundert einzelne Touristen angelockt. Aber es war der Chartertourismus, der in den sechziger Jahren ein explosionsartiges Wachstum auslöste. Dass es kontrolliert verlief, ist das Verdienst der Bauordnung von 1955 und der Planungsrichtlinien (Plan general de ordenación urbana) von 1956. Dieser Plan sah freilich noch keine Hochhäuser vor, sondern eine Art Gartenstadt. Erstaunlich bleibt, wie grosszügig der Strassenraster die bebaubare Fläche mit einem Schlag vervielfachte. Den benidormensischen Seefahrern, deren manch einer New York und Schanghai gesehen hatte, schien das einzuleuchten: als hätten sie geahnt, welche Dimensionen ihr Städtchen eines Tages annehmen würde.

1963 wurden alle Höhenbeschränkungen für Neubauten aufgehoben; man setzte bewusst auf Verdichtung. Die Bautätigkeit hält bis heute an, aber der Grundstock wurde in den frühen siebziger Jahren gelegt. Es entstand die Torre Europa mit ihrer auskragenden Spitze, bis heute der schönste Bau der Stadt. Erwähnenswert auch die 1985 vollendete Torre Levante mit ihren 36 Geschossen bei nur 15 Metern Fassadenbreite. An architektonischem Glanz lag aber den Investoren um so weniger, als sie von den Banken und von den Tour Operators, die ihre Häuser füllten, aber die Preise drückten, in die Zange genommen wurden. Zu den Eigentümlichkeiten des lokalen Immobilienhandels gehört daher der Mitbesitz der einstigen Landeigentümer: Für ihre Grundstücke liessen sie sich von den Investoren mit einer bestimmten Anzahl gebauter Apartments (gewöhnlich 20 Prozent) vergüten. Wie sie stammen auch die Investoren überwiegend aus der Region selbst, allenfalls aus Madrid. Bis heute ist keine einzige internationale Hotelkette in Benidorm präsent. Es sind überwiegend Dreisternbetriebe: 35 000, bald über 40 000 Hotelbetten, im Jahresdurchschnitt zu 92 Prozent belegt, dazu kommt ein Mehrfaches an Apartments. Die Einwohnerzahl ist auf 56 000 gestiegen; in Wirklichkeit sind aber heute nie weniger als 110 000 Menschen in der Stadt anwesend. Im Sommer schnellt ihre Zahl auf beinahe eine halbe Million. Benidorm kennt also sehr wohl saisonale Schwankungen. Aber es ist, und das können sonst nur noch die kanarischen Destinationen von sich behaupten, auch im Winter keine Geisterstadt.

Gehen, kaufen, tanzen
Wohlhabendere, feinsinnigere Reisende denken mit Schaudern an diesen Tummelplatz, das sandige Sommergrab für Millionen. Die angeblich die Küste verschandelnden Betonburgen beanspruchen jedoch nicht mehr Raum als eine Luxussiedlung mit Golfplatz für ein paar hundert Privilegierte - und auch deren Behausungen sind ja nicht immer über alle geschmacklichen Zweifel erhaben; und auch sie zieht es gelegentlich in die Stadt. Dann steigen sie in ihre Autos und schimpfen auf das Verkehrschaos, das sie, die Liebhaber eines pseudoländlichen Lebens, in Wirklichkeit selbst verursachen. Die Besucher von Benidorm hingegen kommen mit Charterflügen aus Birmingham oder mit Bussen aus Bilbao, und einmal da, sind sie zu Fuss unterwegs. Man hat ausgerechnet, dass ein Benidorm-Tourist spazierenderweise täglich 14 Kilometer zurücklegt und mehr Zeit auf den Trottoirs als am Strand verbringt. Das ist ebenso gesund wie unterhaltsam. Wem es auf seinem Balkon im 22. Stockwerk langweilig wird, der steigt in den Lift, und schon ist er mittendrin im «Themenpark Stadt». Gewiss, in Erscheinung tritt da nicht la beautiful, wie die Schönen der Welt auf Neuspanisch heissen, sondern eher el lumpen (ein fast vergessener Ausdruck). Aber Benidorms menschliche Fauna beschränkt sich doch auch nicht auf jene britischen Proleten, die sich schon mittags betrunken auf den Trottoirs fläzen und, falls sie wieder auf die Beine kommen, nachts splitternackt und im Gänsemarsch über die Avenida de Cuenca wackeln.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Untergang der spanischen Folklore, die einst Touristen lockte. Von den 16 Flamenco-Tablaos, die es 1973 in der Stadt gab, hat ein einziges überlebt. Wer zwei Wochen Benidorm bucht, will seinem grauen Alltag entfliehen - aber nur, um zwei Wochen lang Friday Night zu feiern, als wäre er bei sich zu Hause. Er muss das allerdings auch hier in bestimmten Unterhaltungsghettos tun, denn die Stadt legt Wert auf Nachtruhe. Sind doch ausser im Hochsommer Rentner (britische, spanische, holländische, aber nur zwei Prozent deutsche) ihre Haupteinnahmequelle. Schon am Nachmittag legen unzählige ältere Pärchen in irgendwelchen Buden zwischen den Wolkenkratzern ein Tänzchen aufs Parkett; und der Abendspaziergang Tausender älterer spanischer Provinzler an der Playa de Poniente ist einfach herzergreifend. Im Übrigen weist die Stadt vermutlich die höchste Rollstuhldichte der Welt auf.

All diese Leute, die da durch Benidorm gehen und rocken und rollen, geben Geld aus; gemessen an ihrer Kaufkraft sogar sehr viel. Wenn Las Vegas die Stadt ist, in der sich Amerikas untere Mittelklasse mit Vorliebe ruiniert, dann kann Benidorm - ebenso wie in Sachen Bauwut und Lichterzauber - als die ärmliche europäische Variante davon gelten. Auf gerade fünf Kilometern Küstenlinie erwirtschaftet es über 6 Prozent der Tourismuseinkünfte eines Landes, das jährlich 70 Millionen Besucher empfängt. Man hat errechnet, dass 0,024 Prozent der spanischen Landfläche genügen würden, um Spaniens Bruttosozialprodukt allein mittels Pauschaltourismus zu generieren. Um aus Olivenöl denselben Reichtum zu schöpfen, würden hingegen 378 Prozent der vorhandenen Fläche benötigt.

«Upbeat to the Leisure City»
Solch kuriose Daten - und eine Unmenge weiterer - enthält ein Buch, das der holländische Architekt Winy Maas und sein Büro MVRDV zusammen mit Professoren und Studenten der Architekturschule Barcelona erarbeitet haben: «Costa Ibérica». Herausgegeben von Actar, dem Shootingstar unter den Architekturverlagen, lässt es an vor Information strotzender Grafik und vor Grafik strotzenden Planspielen (zur Zukunft Benidorms) selbst die von Bruce Mau gestalteten Bücher hinter sich. Es wäre aber doch kaum mehr als ein amüsantes Quodlibet ohne den Essay «Benidorm, Gebrauchsanweisung» des Soziologen José Miguel Iribas. Der Tourismusspezialist Iribas unterscheidet grundsätzlich zwei Systeme: Entweder wird Qualitätsraum an den Meistbietenden verschleudert (Beispiel Mallorca), oder das Territorium wird gezielt in ein Industrieprodukt verwandelt (Beispiel Benidorm). Benidorm ist für ihn eine Zweiliterflasche Coca-Cola, aus der ausser den Snobs einfach alle, auch die Grossmütter, gelegentlich einen Schluck nehmen. Denn der Mehrheit der Touristen, so Iribas, liegt gar nichts am Raum, sondern nur an der intensiven Nutzung der Zeit. Deshalb sind auch künstliche Erlebnisräume, wie man sie jetzt ausserhalb der Stadt mit dem Themenpark «Terra Mítica» geschaffen hat, zum Scheitern verurteilt. Terra Mítica kann so wenig mit Benidorm konkurrieren wie Disneyland mit Paris. Was Benidorm jedoch selbst Paris - und allen historischen Ferienzielen - voraus hat: Es ist authentischer. Denn Benidorm ist reine Gegenwart.


[MVRDV: Costa Ibérica. Upbeat to the Leisure City (engl. Ausgabe); Hacia la ciudad del ocio (sp. Ausgabe). Actar, Barcelona, 2000. Ptas. 3600.-.]

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