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Bauen in der Landschaft
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Architektur im 20. Jahrhundert: Österreich

1. Oktober 1995 - Walter Zschokke
In seiner Wiener Zeit an der Architekturabteilung der k.u.k. Kunstgewerbeschule, der heutigen Hochschule für angewandte Kunst, entwarf Heinrich Tessenow (1870-1950) ein Wohnhaus für Friedrich Böhler, den kunstbeflissenen Sproß einer Wiener Industriellenfamilie. Das 1916-17 in Oberalpina bei St. Moritz errichtete Gebäude wurde vor wenigen Jahren zerstört, als Opfer seines letzten Eigentümers, dessen Architekten und einer desinteressierten Bevölkerung.

In der noch weitgehend alpwirtschaftlich genutzten Landschaft bildete das Haus eine Setzung abseits der ersten touristisch entwickelten Siedlungen. Kräftige, polygonal abgewinkelte Mauern unter einem die Hangneigung paraphrasierenden Schindeldach umfaßten einen rational kreuzförmig organisierten Grundriß. Stolz und unnahbar, wie eine der zahlreichen Burganlagen im alpinen Raum, saß das Bauwerk im Hang, ein schutzbietender Rückzugsort, dessen Terrasse auf einer Stützmauer hoch über der Alpwiese ansetzte. Ein Pionierbau, dazu ausersehen Wind und Wetter zu trotzen. Obwohl aus dem norddeutschen Flachland stammend, hat Tessenow dem damaligen Verständnis für ein Bauen in naturnaher alpiner Landschaft sprechende Form verliehen.

Anfang der dreißiger Jahre, als die Wintersport- und Wanderbewegung den Ober- und Mittelschichten ein Naheverhältnis zu Landschaft und Topographie ermöglicht hatte, fiel das Trotzige weg. Sowohl Lois Welzenbacher (1889-1955), der seine Lehrjahre bei Theodor Fischer in München genutzt hatte, als auch Ernst Anton Plischke (1903-92) treten in ihren Bauten mit der Geländemodulation und der Umgebung wesentlich stärker in Beziehung.

Das Haus Heyrovsky bei Zell am See, von Lois Welzenbacher 1932 erbaut, strebt mit seiner rund geschwungenen Front aus dem steilen Wiesenbord; im unteren Geschoß öffnen sich die Wohnräume auf eine kleine Terrasse, die alsbald in die Wiese übergeht. Der schlanke Balkon im Obergeschoß zieht sich um die Hauptfront, bis er auf den gewachsenen Boden trifft, von dem aus er auch betreten werden kann, so daß eine enge funktionelle Beziehung zur nahen Almwiese möglich wird. Von jedem der Zimmer bietet sich wegen der Fassadenkrümmung ein anderer Fensterblick, womit der prächtigen Aussicht über den See und auf die dahinter aufsteigenden Berge Rechnung getragen wird.

Ähnlich verhält es sich mit dem Haus am Attersee, das Plischke 1933 errichtete. In der etwas sanfteren Topographie bot sich eine Hügelkuppe als Bauplatz an, auf der das leichte, von Plischkes Amerikaerfahrung zeugende Holzskelett punktuell abgestützt ist. Die Flanken des Gebäudes schwenken, den Höhenlinien folgend, in stumpfen Winkeln nach hinten. Eine dünne Dachplatte wird von schlanken Rundstützen getragen und beschirmt das wie daruntergeschoben wirkende Volumen der Wohnräume, die von einem durchgehenden Bandfenster zusammengefaßt werden. Die Heuwiese tritt unmittelbar an das Gebäude heran, von den Wohnräumen führen Türen direkt ins Freie.

Hinter diesen beiden Bauwerken steht das Ideal einer neu gewonnenen Naturverbundenheit; abgehobener Stolz wird ersetzt durch Lebensfreude, und das Schutzbedürfnis weicht einer selbstbewußten Weltoffenheit. Die moderne, zeitgemäße Luftigkeit und Leichtigkeit wird unterstützt durch die Verwendung des Baustoffs Holz, der zwar als traditionell ländliches und naturverbundenes Material gilt, durch die dematerialisierende Wirkung der weißen Farbe jedoch relativiert und nurmehr in der Struktur betont wird. Das „Bauen in der Landschaft“, das weiterhin als primäre bauliche Setzung in einer von landwirtschaftlicher Tätigkeit geprägten Umgebung verstanden wird, verzichtet auf heroische Gebärden; die Natur erscheint nicht mehr ganz so wild, daß sie „bezwungen“ oder „beherrscht“ werden müßte. Selbst in prächtiger, aussichtsreicher Lage drängt sich die Architektur nicht in den Vordergrund, sondern wirkt gleichsam beiläufig. Innerarchitektonische Fragen haben Vorrang: das Verhältnis von Dach zu Volumen, von Öffnung zu Wand, von innen nach außen. Zugleich wird das Einfangen der Aussicht zum wesentlichen Thema; um diesen Zweck zu erfüllen, wird das Gebäude fast zum dienenden Gerät. Der Umraum wird bildhaft in die Zimmer des Hauses hereingeholt. Das Vorgehen tendiert dabei zum Aufheben des Gegensatzes innen - außen. Die Blicke aus den Fenstertüren, die ein Segment der Aussicht rahmen, werden zu Vorstufen des Rundblicks vom Balkon oder von der Terrasse, wo das gesamte Landschaftspanorama zur Verfügung steht.

Im August 1935 erfolgte die Fertigstellung der Großglockner Hochalpenstraße, geplant und errichtet unter der Leitung des Bauingenieurs Franz Wallack (1887-1966). Die großzügige Linienführung verzichtet auf die sonst zahlreichen, dicht gesetzten und engen Kehren, so daß die Fahrt sich flüssiger entwickeln kann und die Beziehung der Fahrzeuginsassen zur umgebenden Bergwelt sich geruhsamer gestaltet. Die ursprüngliche Schotterstraße wies bergseits eine flache, mit Steinplatten ausgekleidete Rinne auf, talseits begleiteten schräggestellte Wehrsteine den Straßenrand, der fast gleitend in den Moränenschotter überging. Der Bewuchs der anschließenden Almwiesen wurde intensiv gepflegt, so daß die Alpenflora in Straßennähe besonders gut zur Geltung kam. Im Zuge der vermehrten Automobilisierung, der Asphaltierung und der Begrenzung des Straßenrandes mit Leitplanken ist die ursprüngliche Konzeption des sanften Übergangs härter geworden. Der spezifische Charakter der kontinuierlichen Linienführung mit insgesamt nur 27 Kehren, der die Glocknerstraße von anderen Alpenpaßstraßen unterscheidet, wird in Motorradfahrerkreisen jedoch bis heute geschätzt.

Nach der kriegsbedingten Unterbrechung und der Wiederaufbauzeit dauerte es noch einige Jahre, bis auch die Architekturkultur wieder begann, sich in die Breite zu entwickeln. Mit der spürbar werdenden Zersiedelung veränderte sich die Haltung der engagierten Architekten, sie bemühten sich um stärkere Zurückhaltung, wenn sie für die freie Landschaft entwarfen. Bei seinem Projekt für ein Wohnhaus in St. Margarethen im Burgenland, das 1969 fertiggestellt wurde, nahm Roland Rainer (*1910) materialmäßig und strukturell Bezug auf die umgebende Landschaft. Die Steine für die Mauern des lagerhaft konzipierten Hauses stammen aus dem nahen Steinbruch, und da und dort stößt dasselbe Material auch durch die dünne Vegetationsschicht. Von weitem sieht die Anlage aus wie eine lokale Verdichtung von Weinbergmauern. Nur die Vertikale des Kamins signalisiert den Herd und damit die Behausung. Aus der Nähe stellt man fest, daß die Mauern kräftige, horizontale Dächer aus Stahlbeton tragen. Den geschlossenen Räumen sind mehrere hofartige Außenräume zugeordnet, die unterschiedlich stark definiert sind. Zahlreiche Maulbeer- und Mandelbäume umgürten das Gebäude mit einer weiteren Übergangszone. Damit wird die Wirkung der architektonischen Setzung noch weiter reduziert, als sie es aufgrund der Gliederung und der zurückhaltend-kargen Formensprache schon ist. Die Einbettung dieses Hauses in die Landschaft erfolgt über mehrere schleierartige Schichten, die seine Präsenz bereits auf kurze Distanz ausblenden, ähnlich der Wirkung der Hecke an Dornröschens Schloß.

In vergleichbarer Weise hat Ernst Hiesmayr (*1920) ein Wohnhaus in einen sanften Südhang der Wachau hineinkomponiert, das 1968 ausgeführt wurde. Die Rückseite ist vollständig eingegraben, nach vorn öffnen sich große Schiebefenster in eine hofartige Vorzone, die von niedrigen Anschüttungen flankiert wird. Über den einen dieser beiden Hügel zieht sich die Geländekontur hinauf bis zum flachen, grün bewachsenen Dach. Nur im Wohnraum, über dem runden Eßtisch wölbt sich die Decke nach oben und kulminiert in einer Lichtkuppel, die den darunterliegenden Bereich vor den anderen auszeichnet. Der Rückzug auf die Wohnhöhle, aus der nur ein paar wenige Fenster zwischen dem Bewuchs herausblinzeln, bezeichnet eine Haltung, die in der geschützten Landschaft ein Minimum an materieller Präsenz anstrebt, ohne dabei eine Einbuße an architektonischer Qualität zu erleiden. Die Formensprache bleibt nüchtern modern, für Gemütlichkeit sorgen die Bewohner selbst. Dieses Wohnhaus bezeichnet vielleicht einen Umkehrpunkt im Architekturgeschehen, denn das nächste Gebäude, das den Betrachter ob seiner Positionierung im Gelände faszinierte und rasch einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte, war von ganz anderer Art.

Manfred Kovatsch (*1940) setzte den einfachen Holzbau für ein Sommerhaus giebelständig in eine steile Heuwiese hoch über dem Ossiacher See. 1975-77 errichtet, provozierte das helle Lärchenholz ein Jahr lang die Gemüter - bis es abgewittert war. Unter seinem schlanken, weit vorstehenden Satteldach scheint das Bauwerk fast aus dem Steilhang herauszuspringen. Als Steigerung bietet sich am äußersten Eck noch ein um 45° verdrehter, pavillonartiger Sitzplatz an. Die Neigung des Hanges wird im Innern des Gebäudes aufgenommen und über die Geschoße noch gesteigert. Von außen reicht die Heuwiese bis hart an die bretterverschalten Wände, und die seitlichen Zugangsmöglichkeiten sind bescheiden. Die Positionierung ist selbstbewußt und weit stärker wirksam als jene landwirtschaftlicher Gebäude, wird aber, wie bei diesen, durch das verwitterungsfreundliche Material Holz in der Präsenz relativiert.

Mit dem Wiedererstarken der Rolle der Architektur in der Gesamtkultur stießen auch kleinere und größere Ingenieurbauwerke wieder auf vermehrte gestalterische Zuwendung. Die Erdefunkstelle Aflenz, die Gustav Peichl (*1928) in der Obersteiermark 1976-79 errichtete, ist grundsätzlich derselben Haltung verpflichtet, wie sie die Häuser Rainers und Hiesmayrs vertreten. Die wesentlich mächtigere Anlage entwickelt sich unter dem ausgedehnten Teppich der Almwiese, die da und dort eingeschnitten ist, wo Licht und Luft gewünscht sind. Die höhenversetzten Schnittränder werden dabei von weißen Mauern auseinandergehalten. Nur Stirnseiten sind sichtbar, die niedrigen Fassaden liegen oft hinter einer Stützenreihe im Schatten des Grasdachs. Einerseits gelingt es auf diese Weise, die Präsenz der Diensträumlichkeiten im dünnbebauten Hochtal fast auszublenden, andererseits erlangen die riesigen Schirmantennen, die als einzige - objekthaft wie Pilze - aus der Wiese herausragen, mehr autonome Wirkung. Was aus technischen Gründen über der Erde sein muß, wird stolz gezeigt, alles andere bleibt unter dem Wiesengrün verborgen.

Die gestalterische Komponente erhält sogar bei den scheinbar reinen Ingenieurwerken des Wasserbaus mehr Gewicht: Der Kulturtechniker und Architekt Max Rieder (*1957) errichtete 1991 hinter Grödig bei Salzburg in der Königseer Ache das Kleinkraftwerk „Hangenden Stein“, das die dort vorhandene Geländestufe nützt. Eine lange Mauer scheidet den Oberwasserkanal vom Altwasser. Die Aggregate der hydroelektrischen Anlage bilden zusammen mit den anderen Elementen des Werks eine plastische Installation im Flußbett. Natürlich sind sämtliche Teile ingenieurmäßig bestimmt, aber darüber hinaus sind vorhandene Freiheitsgrade für die räumliche Komposition genutzt. Die ganze Anlage tritt mit der Landschaft in Beziehung, wie dies bei großen Felsblöcken der Fall ist.

Die jüngste Gruppe von Bauwerken beginnt mit der unmittelbaren Umgebung ein intensives räumliches Dialogverhältnis, in dessen Folge das Gebäude sowohl seine Selbständigkeit bewahrt als auch in Teilen in die Landschaft übergeht und von deren Elementen mitbestimmt wird.

In eine Waldlichtung bei Wiener Neustadt hat Rudolf Prohazka (*1947) ein 1993 fertiggestelltes Haus hineinkomponiert. Den Kern eines Vorgängerbaus, eine alte Holzhütte, integrierte er in den Neubau. Ebenso fanden die in Naturstein gemauerten Elemente wie Kamin und Stützmauern weitere Verwendung. Die Schlafräume sind als weiße, weitgehend geschlossene Volumen konzipiert, dazwischen grenzen Glaswände die Wohnräume klimatisch vom Umraum ab. Von der Waldwiese führt eine Treppe auf das begehbare Dach, das somit Teil der lokalen Topographie wird, von der der Blick durch die benachbarten Hochstämme in die nahen Baumkronen hinausgreift.

In einer Hanglage an der Südflanke eines waldreichen Tales hinter Klosterneuburg plante Franziska Ullmann (*1950) das Wohnhaus für eine Geschäftsfrau, das 1993 fertiggestellt wurde. Auf dem sockelartigen Untergeschoß mit der Breitseite zum Tal ist ein bergender Baukörper aufgelagert. Er deckt einen kleinen, offenen Vorbereich, eine „Winterterrasse“, die nach Süden orientiert ist und Ankommende freundlich empfängt. Hangseits hinter dem Haus liegt eine zweite Terrasse, die, privater und für die warme Jahreszeit gedacht, an den anderen drei Seiten von den Bäumen des nahen Waldes gefaßt wird. Der Wohnraum im Obergeschoß weist nach Süden, mit Blick zum dicht bewaldeten Gegenhang, ein überbreites Fenster auf, das fast den ganzen Wald und darüber noch einen Streifen Himmel einfängt. Der Rückzugs- und Ausblicksraum tritt nach außen als ordnender Baukörper auf, dessen Verhältnis zur Landschaft mehrdeutig ist und sich auf verschiedene Maßstabsebenen bezieht.

Mit dem 1994 errichteten Kleinhaus am Ufer eines Ausees bei Blindenmarkt/Niederösterreich treibt Ernst Beneder (*1958) den doppeldeutigen Landschaftsbezug ein Stück weiter. Ein einfacher quadrischer Baukörper balanciert landseitig auf einem Unterbau und kragt mit der Vorderseite über das Wasser aus. Die Lage des Bauwerks in der Gabelung einer den See begleitenden Straße ist präzis abgezirkelt und das Verhältnis zur nahen Vertikalen des Transformatorenturms ist bewußt einkalkuliert. So tritt das Bauwerk zum Umraum in ein dialogisches Verhältnis und bildet einen integrierenden Teil des gesamten Ambientes. Von innen wird der Blick dagegen von den geschlossenen Seitenwänden durch die raumhohen Glasschiebefenster über den See auf einen Ausschnitt des baumbestandenen gegenüberliegenden Ufers gelenkt. Diese Aussicht ist äußerst selektiv. Mit seiner starken räumlichen Definiertheit bietet das Haus ein hohes Maß an Geborgenheit.

Die mehrschichtige Kommunikation mit natürlichen und künstlichen Elementen der umgebenden Landschaft und mit einer raumbildenden und raumabstrahlenden Nachbarschaft erzeugt eine vielfältig vernetzte Situation. Sowohl Lage und Ausrichtung beziehen sich auf das Umfeld, unterstützt von sekundären Elementen. Klare, einfache Volumen ordnen die Außenräume. Die Aussicht bildet nur einen Teilaspekt, dem das Schutzbedürfnis zur Seite steht. Die Beziehung zur Landschaft erlangt den Charakter von Gesten. Damit werden beim architektonischen Ausdruck eine klare Aussage und eine präzise Wirkung mit ansprechender Offenheit verknüpft.
[ Erschienen im Oktober 1995, Verlag: Prestel, München - New York, Herausgeber: Architektur Zentrum Wien / Deutsches Architektur Museum, Frankfurt a.Main ]

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