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Eine nordafrikanische Stadt entdeckt ihre Trümpfe
Neue Zürcher Zeitung

Algiers Traum von der Metropole des 21. Jahrhunderts

Nach Jahren politischer Ohnmacht versucht Algerien seine Führungsrolle im Maghreb zurückzugewinnen. In der urbanistischen Situation der Hauptstadt spiegeln sich die kulturellen Gegensätze des osmanisch-islamischen und des französisch-kolonialen Erbes. Wie gross sind die Energien, die sich daraus für eine metropolitane Zukunft Algiers gewinnen lassen?

7. Juli 2000 - Gabriele Hoffmann
Wenn die Medien in den neunziger Jahren von Algerien Notiz nahmen, dann in der Regel nur im Zusammenhang mit Terrorakten. Für Europäer ist heute aber der Besuch der Hauptstadt Algier wieder möglich; und er ist durchaus auch im Interesse dieses Landes, in dem neue Hoffnungen keimen. Man landet auf dem Flughafen Houari Boumedienne, fährt mit einem Taxi über die Autobahn Richtung Innenstadt und ist sich spätestens beim Einbiegen in die Küstenstrasse bewusst, einen Fehler zu begehen, der nicht wieder gutzumachen ist: Dieser in der Form eines grandiosen Amphitheaters an den sanften Hängen des Sahelgebirges aufsteigenden Hafenstadt müsste man sich eigentlich vom Wasser her nähern.


Die Rettung der Kasbah

Nach Jahren der politischen Gewalt erlebt man heute in Algier nicht nur ein spürbares Aufatmen - man wird Zeuge einer Vision. Die Algerier, Bewohner des grössten maghrebinischen Staates, sehen ihre Hauptstadt als «Metropole des 21. Jahrhunderts». Die Schubladen der für die urbane Entwicklung zuständigen Regierungsstellen und Architekturbüros sind gefüllt mit Masterplänen und mit Projekten für einzelne Stadtteile. Sie alle gehen davon aus, dass die geostrategische Lage von «Grand Alger» in einer weiten halbmondförmigen Meeresbucht ihre vornehmste Trumpfkarte im globalen Wettbewerb der Metropolen sein wird. Und so darf man wohl sicher sein, dass bei der Neugestaltung der Uferzone auch der Blick vom Meer auf die Stadt eine mindestens virtuelle Rehabilitierung erfahren wird.

Die ersten Siedler, die sich die Vorteile dieses Küstenabschnitts zunutze machten, waren im 6. Jahrhundert v. Chr. die Phönizier, die mit ihren Handelsniederlassungen frühe städtische Strukturen schufen. Ab dem dritten vorchristlichen Jahrhundert bildeten Berberstämme grössere Siedlungseinheiten, wobei sie ihre Gunst bald Rom, bald Karthago zukommen liessen. Aus der vorrömischen Periode Algiers haben sich nur sehr geringe archäologische Funde erhalten. Aber auch von den Römern, die in Tunesien und Libyen grossartige Beweise ihrer urbanistischen Leistungsfähigkeit hinterliessen, sind in Algier kaum Spuren nachweisbar. Um 960 begann mit der Gründung von al-Djazair durch den Prinzen Bologhine aus der berberischen Zeriden-Dynastie die nächste Periode städtischer Entwicklung. Im frühen 16. Jahrhundert versuchten die Spanier der Piraterie im Mittelmeer durch Errichtung einer Festung auf der grössten der vier Inseln von al-Djazair ein Ende zu machen. Mit Hilfe der Türken gelang es den Berbern, ihre Stadt vor der Eroberung durch die Spanier zu bewahren, freilich um den Preis, dass 1529 al-Djazair dem Osmanischen Reich eingegliedert wurde. Nach 300 Jahren endete die osmanische Herrschaft 1830 mit der Eroberung Algeriens durch Frankreich.

Es spricht alles dafür, dass die Türken, die als Herrscher und Verbündete kamen, die vorgefundene berberische Stadtstruktur weder zerstörten noch wesentlich veränderten, wohl aber mit ihrem Hausbaustil der urbanen Entwicklung neue Impulse gaben. Die öffentlichen Gebäude in der Kasbah, der Medina Algiers, die Verteidigungsanlagen, Moscheen, Paläste und Brunnen sind auf Grund von Inschriften ins 16. bis 18. Jahrhundert zu datieren. Ein grosser Teil der Stadt dürfte beim Erdbeben 1716 zerstört worden sein. F. Cresti hat bei Untersuchungen zur Baugeschichte der Kasbah herausgefunden, dass die Stadt in der osmanischen Zeit durch Verdichtung in Form einer Aufstockung der Häuser die «definitive Form» annahm, die 1830 von den Franzosen vorgefunden und in ihren militärischen Plänen aufgezeichnet wurde. Von der Stadtmauer im Dreieck umschlossen, strebten die prismatisch ineinander verkeilten, dicht bebauten Strassen und Gassen dem Hafen zu.


Verlust an historischer Substanz

Was in der Kasbah an alten Bauten noch steht, ist in einem erschreckend ruinenhaften Zustand. Die vom Schutt befreiten Lücken im einst dichten urbanen Gewebe wurden von den Jugendlichen in Fussballplätze umfunktioniert. Der Verlust an historischer Substanz ist unübersehbar. In der oberen Kasbah hat man mit der Räumung der Häuser begonnen, um die lange geplante und immer wieder hinausgezögerte Restaurierung endlich in Angriff zu nehmen. Dabei ist neben der Unterbringung der dort lebenden Menschen die Klärung der komplizierten Besitzverhältnisse eines der grössten Probleme. Schon jetzt steht fest, dass der alte Charakter der Kasbah mit ihrer für das europäische Stadtverständnis chaotischen, in Wirklichkeit aber hierarchisch geordneten urbanen Struktur nicht wiederhergestellt werden kann. Man darf froh sein, wenn Wohnen und Tourismus ein erträgliches Gemenge ergeben werden. Der bis heute einzige vollständig restaurierte Gebäudekomplex ist die von Dey Ramdhan 1576 erbaute «Bastion 23», die die Kasbah zum Meer hin abgrenzt. Das vornehmste ihrer vier Gebäude besitzt mit seinem zweigeschossigen, von Arkaden umstellten Innenhof die für die islamische Architektur charakteristische Introvertiertheit. Die Fassaden zum Hof und die angrenzenden Räume sind mit Fayencen prächtig geschmückt. Das Bauwerk ist auch ein Mahnmal, das an die verheerenden Zerstörungen in der unteren Kasbah während der ersten Phase der französischen Kolonisation erinnert. Auf den freigeräumten Flächen entstanden Strassen und Plätze mit mehrgeschossigen Mietshäusern im neoklassizistischen Stil. Vollendet wurde das Werk der kolonialen Barbarei durch die Avenue du 1 er-Novembre, die nach einem um 1930 vorgelegten Plan von Tony Socard in den fünfziger Jahren realisiert wurde.

Unlängst fand in der Bastion 23 eine Ausstellung mit dem Titel «Architecture, Métropole, Région» statt, die eine zehnjährige Kooperation zwischen dem Städtebau-Institut (SI) der Universität Stuttgart (Prof. Dr. Eckhart Ribbeck) und der Ecole polytechnique d'architecture et d'urbanisme (EPAU) in Algier dokumentierte. Ziel der universitären Zusammenarbeit ist der wissenschaftliche Austausch unter den Lehrenden über Fragen der Stadtplanung und des Städtebaus mit den Schwerpunkten Algier («ein metropolitanes Projekt») und Ghardaia («ein regionales Projekt»). Einzelne urbanistische Projekte werden in gemeinsamen Workshops von algerischen und deutschen Studenten bearbeitet. Eine Hauptaufgabe der von der GTZ (Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit) geförderten Partnerschaft betrifft die ideelle und materielle Förderung der EPAU mit dem doppelten Ziel: nach aussen Stärkung ihrer Aktivitäten auf internationaler Ebene, nach innen die Entwicklung der Stadtforschung und der aktiven Beteiligung bei wichtigen Projekten in Algerien.


Haussmann in Algier

Wie in Ägypten oder in Libanon hatte auch in Algerien die Kolonialisierung eine beschleunigte Industrialisierung zur Folge. Der wachsende Bedarf an Arbeitskräften liess die Menschen aus den ländlichen Gebieten in die Städte strömen. Die Kasbah, die zur Zeit der französischen Kolonisation zur peripheren Enklave für die arabische Bevölkerung herabsank, bekam die Funktion eines sozialen Schmelztiegels, in dem sich zwangsläufig neue Formen des Zusammenlebens von Menschen verschiedener Herkunft entwickelten. Guiauchain, der prominenteste Stadtplaner Algiers im 19. Jahrhundert, schuf mit seinem Erweiterungsplan von 1846 die Grundlage für die «neue Stadt» nach dem Vorbild Haussmanns in Paris: gradlinige Strassenzüge mit mehrgeschossigen Wohn- und Geschäftshäusern gleicher Höhe, überdachte Galerien im Erdgeschoss und eine dem Rang der Strasse in der städtischen Hierarchie angemessene Fassadengestaltung. Als beste Adresse galt die Uferstrasse, der 250 Meter breite Boulevard de la République.

Mit dem Bau einer neuen Stadtmauer bis 1848 wurden alte arabische Vororte wie Bab Azzoun und Bab al-Oued in den städtischen Kernbereich einbezogen, die alten Ringmauern wurden zu Boulevards umgestaltet. Chassériau, zuvor Direktor der städtischen Bauten in Marseille, setzte mit seiner berühmten Uferbebauung - ein 150 Meter langer Damm mit 18 bis zu 15 Metern hohen Arkaden - ein unübersehbares Zeichen für die kulturelle Zweiteilung der Stadt, die immer mehr den Charakter einer sozialen Segregation annahm. Ganz im Geist Napoleons III. wurde Napoléonville, ein zum Meer hin orientiertes Viertel für 60 000 Menschen, aus dem Boden gestampft. Ab 1880 begann sich die Militärstadt Algier in eine Handels- und Dienstleistungsstadt zu verwandeln. Doch die vom zunehmenden Wohnungsbedarf diktierte Bautätigkeit erfolgte noch bis weit ins 20. Jahrhundert ohne städtebauliches Gesamtkonzept. In den höher gelegenen Randbezirken erstellten laut S. Hammache zwischen 1922 und 1929 private Baugesellschaften 25 Siedlungen. Während das «Grand ensemble», der vielgeschossige Wohnblock in Plattenbauweise, zum bevorzugten städtischen Bautypus avancierte, breiteten sich an der Peripherie der Stadt die ersten «Spontansiedlungen» aus.


Le Corbusier und die Folgen

Ein erster Leitplan (Plan directeur) «zur Verschönerung und Erweiterung der Stadt» datiert von 1931. Es ist die Geburtsstunde der «Region Algier», des Zusammenschlusses der Stadt Algier mit 17 Gemeinden zu einer Verwaltungseinheit. Geprägt war das Bauen der dreissiger Jahre von einer Funktionalität und Rationalität verpflichteten internationalen Architektursprache. Der individuelle, durch Natur und Tradition bestimmte Ort existiert nicht mehr, lautete ihre stereotype Charakterisierung. Für Le Corbusier und seinen Plan «Obus» («Granate») von 1931 stimmte das allerdings nur bedingt. Der Plan Obus zeichnete sich durch vier Elemente aus: am Wasser gelegen die Cité d'affaires mit scheibenförmigen Hochhäusern, an den Hängen des Fort de l'Empereur eine abstrakte Figuration aus konvexen und konkaven Gebäuden, zwischen beiden eine Autostrasse und parallel zur Küstenlinie ein mäandrierender, über 100 Meter hoher Viadukt mit Wohneinheiten, Läden und einer Autobahn als Bekrönung. Eine bewundernswerte Einheit von Natur und Architektur, sagen die einen; eine bauliche Bestätigung der real existierenden Klassenunterschiede, kontern die anderen. Der Entwurf, auch in seinen entschärften Varianten, kam nicht zur Ausführung. 1942 scheiterte Le Corbusier in Algier noch einmal mit einem Hochhausprojekt für das Quartier de la Marine. Seine Bedeutung für Algerien liegt wohl eher in der Tatsache, dass er und seine Schüler der Charta von Athen und damit dem Gedanken der Verdichtung durch Höhe Eingang in die algerische Stadtplanung verschafften.

Mehr als die gründerzeitliche Architektur der Boulevards bestimmen heute die Grands ensembles und HLM-Bauten (Habitat à loyer modéré) das Stadtbild vor allem in den Aussenbezirken. Zu den architektonisch herausragenden Beispielen gehören die Siedlungen des Architekten Fernand Pouillon aus den fünfziger Jahren. In Diar al-Mahçoul gruppieren sich die mehrgeschossigen Wohnbauten um einen Wohnturm. Kräftige vertikale Mauerbänder in rhythmischer Gliederung dominieren die Fassaden. Mit einem Dekor aus Holz und farbiger Keramik nimmt Pouillon die Architektursprache der Medina auf. Er ahmt das Alte nicht nach, er verwendet es innerhalb eines Zeichensystems. In Diar al-Mahçoul leben mit Sicherheit zu viele Menschen auf engstem Raum. Beobachtet man aber das Treiben in den Höfen, bekommt man den Eindruck, dass sich mit der erzwungenen Nähe ein starker gemeinsamer Willen für eine friedliche Zukunft entwickelt.

Zu den bekannten Architekten, die in Algier ihre Spuren hinterlassen haben, gehört auch der Brasilianer Oscar Niemeyer, der die Universität für Naturwissenschaften und Technik und die Architekturhochschule EPAU errichtete. Als Beispiel für die nachhaltige Wirkung Le Corbusiers sei der von einem Architektenteam (Bourlier, Perret, Miquel) erbaute gigantische Hochhauskomplex «L'Aéro Habitat» genannt.

Wer vom «Mémorial des Martyres» auf die Stadt hinabschaut, erkennt westlich vom Park Essai, dem in der Kolonialzeit angelegten Botanischen Garten, eine riesige Baulücke. Sie ist Teil einer geplanten städtischen Achse, die bis zur Place du 1er-Mai führen soll. Die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung Algeriens macht eine Realisierung solcher urbanistischen Grossprojekte in absehbarer Zukunft eher unwahrscheinlich. Doch es gilt das Wort von «Alger, capitale du 21e siècle». 1997 wurde für dieses Ziel ein neues Verwaltungsorgan eingesetzt: das Gouvernorat d'Alger mit einem Gouverneur im Ministerrang an der Spitze. Ihm beigeordnet ist ein Volksrat (Conseil populaire du Gouvernorat). Vom demographischen Wachstum her hat Gross-Algier mit 2 562 000 Einwohnern sein Soll für eine moderne Metropole erfüllt. Doch wie sieht es aus mit den Wachstumsenergien in Wirtschaft, Verkehr, Wissenschaft und Kultur?


Aufbruch ins 21. Jahrhundert

Die Stadt Algier ist sicher keine Kandidatin für eine Global- oder Hightech-City nach Massgabe südostasiatischer Boom-Städte. Wenn Algier sich Zukunftschancen für eine Höherqualifizierung als Metropole ausrechnet, dann sicher auch nicht allein wegen seiner europäischen Erbschaft, sondern wegen eines sehr heterogenen Erbes. Im westlichen Mittelmeer tritt Algier in Konkurrenz mit Barcelona, Marseille, Genua, allesamt europäische Städte, deren demographische Entwicklung umgekehrt zu der Algiers verläuft. Das anhaltende Bevölkerungswachstum - in den Maghrebstaaten wird für 2025 fast eine Verdoppelung von heute 70 auf 130 Millionen Menschen prognostiziert - ist für die qualitative Metropolenentwicklung das Hauptrisiko. Algiers «Grand projet urbain», der neue Masterplan für Raumordnung und Urbanismus, fördert, so sehen es viele Kritiker, zu einseitig die «zentralen Gebiete der Agglomeration». Die sechs darin genannten Entwicklungszonen befinden sich allesamt in Küstennähe. Das heisst: Bei allen liegt der Schwerpunkt auf Dienstleistungsfunktionen wie Sport, Freizeit und Tourismus.

Ewa Berezowska-Azzag unterzog jüngst im Vortrag «Algier zwischen Traum und Wirklichkeit» die in den Plänen des Gouvernorat genannten Entwicklungschancen Algiers einer kritischen Überprüfung. Die in Algier tätige Architektin und Urbanistin sieht in Opposition zum «Grand projet urbain» eine Perspektive für die Metropole allein in einem Prozess der Dezentralisierung. Satellitenstädte mit spezialisierter Funktion könnten ein «Netz urbaner Hüllen» um die Kernstadt bilden. Nur so liesse sich die für eine Metropole unabdingbare Multifunktionalität erreichen. Warum sollten sich international konkurrenzfähige Wissenschafts-, Technologie- und Kulturzentren nicht als «sekundäre Pole» an möglichst vielen Stellen im urbanen Gefüge etablieren? Will man sozialen Sprengstoff verhindern, so müsste ausser mit Grossprojekten auch mit der «Requalifikation» einiger Grands ensembles endlich begonnen werden.

Die aus der Kolonialzeit stammende und nach 1962 weiter ausgebaute Infrastruktur mit Hafen, Eisenbahn- und Strassennetz gehört neben den Vorzügen der geographischen Lage zweifellos zum wertvollsten Kapital der Agglomeration Algier. Unterschätzt wird noch der Wert eines aus mehreren Kulturen sich zusammensetzenden Erbes. Bei jungen Leuten spürt man Zurückhaltung, wenn es um Fragen ihrer Identität geht. Identität ist für die Architektin und Dozentin Naima Chabbi-Chemrouk kein Produkt, sondern ein Prozess. Die Zukunft der Metropole Algier sieht sie in der «harmonischen Verbindung der Konstanten der lokalen Tradition mit dem Besten, was die Globalisierung zu bieten hat».

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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