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„Sich häuten wie eine Schlange“
Neue Zürcher Zeitung

Balkrishna Doshi - ein Meister der indischen Architektur

Der hierzulande nur wenig bekannte Balkrishna Doshi zählt zu den Protagonisten der zeitgenössischen indischen Architektur. Doshis Werk ist geprägt von seiner Zusammenarbeit mit Le Corbusier und Louis Kahn, aber auch durch seine Suche nach einer spezifisch indischen Baukunst. In seinen Bauten vereinen sich Moderne, Tradition und Intuition.

7. Juli 2000 - Kornel Ringli
Allzu voreilig wird die moderne indische Architektur noch immer mit Importen aus dem Westen gleichgesetzt: allem voran mit Le Corbusiers Chandigarh. Doch was nach der Unabhängigkeit Indiens als Beitrag zur Moderne begann, hat sich seither zu einer eigenständigen Architekturströmung entwickelt, zu deren Schlüsselfiguren der 1927 in Pune geborene Balkrishna Doshi zählt. Nach dem Architekturstudium in Bombay und einer vierjährigen Lehrzeit bei Le Corbusier in Paris kehrte Doshi 1955 nach Indien zurück, wo er in Ahmedabad, der Textilmetropole in Indiens Westen, ein eigenes Atelier gründete. Wie kein anderer war er zum Vermittler zwischen den Kulturen prädestiniert. In Indien herrschten damals Elan und Optimismus - hervorgerufen durch Nehrus Vision einer Zukunft, die demokratische Ideale mit technischem Fortschritt zu verbinden suchte. Dabei sollte die moderne Architektur als Symbol des Aufbruchs dienen.


Die westlichen Fesseln ablegen

In Ahmedabad überwachte Doshi zunächst die Ausführung der Bauten Le Corbusiers. Mit dem Millowner's Building, den Villen Sarabhai und Shodan sowie dem Kulturzentrum besitzt diese Stadt gleich mehrere Meisterwerke von Le Corbusier. Von Ahmedabad, wo Mahatma Gandhi einst in seinem Ashram die Kräfte konzentrierte, gingen während des Befreiungskampfs wichtige Impulse aus. Einige seiner Anhänger, die ihn damals unterstützt hatten, wollten nach der Unabhängigkeit ihre Energien auf die Schaffung von Museen, Bildungsstätten und Forschungslaboratorien richten und das «Manchester of India» in eine Kulturstadt verwandeln.

Eines dieser Projekte war das Institute of Indology, das Doshi zwischen 1957 und 1962 ausführte. Dieses Schulungszentrum beherbergt auch alte Manuskripte, die zuvor unterirdisch in Tempeln aufbewahrt worden waren. Die abrupte Überführung in klimatisierte Räume hätte den wertvollen Schriftstücken geschadet. Deshalb grub Doshi den Baukörper - eine teilweise mit Marmorplatten verkleidete Stahlbetonkonstruktion - halb in den Boden ein. Man betritt das erhöhte Hauptgeschoss über einen Steg, der einen Wassergraben überspannt, und gelangt über eine Terrasse in das von der Aussenwelt etwas entrückte, kühle Innere: Es ist, als betrete man einen Schrein.

Ein auskragender Laubengang umgibt das Obergeschoss wie ein Kranz und bietet dem Gebäude Sonnenschutz. Die tiefen, Schatten spendenden Schlitze und Einschnitte sind einerseits als Reverenz an lokale Tempel und Paläste zu verstehen, andererseits greifen sie Le Corbusiers Prinzip des brise-soleil auf. Als eines der frühesten Werke Doshis demonstriert das Institute of Indology die Anfänge einer Adaptation des International Style an den indischen Kontext.

Dank Doshis Bemühungen konnte mit Louis Kahn nach Le Corbusier eine weitere Grösse der modernen Architektur für einen Bau in Ahmedabad gewonnen werden: das Indian Institute of Management (IIM). Diese Zusammenarbeit - Doshi war auch hier der lokale Bauleiter - vertiefte sich zu einer kreativen Freundschaft, die Doshis Architektur nachhaltig prägte.

Als ein weiteres Beispiel für den Versuch, Ahmedabad als Kulturzentrum zu etablieren, muss die School of Architecture aus dem Jahre 1968 erwähnt werden. Doshi hegte die Idee einer offenen Schule: Möglichst hindernisfrei sollte der Austausch zwischen Innen- und Aussenwelt stattfinden - ein Grundgedanke, der nicht nur metaphorisch auf die akademische Freiheit bezogen war, sondern sich ebenso auf die klimatischen Aspekte des Baus bezog. Eine Folge von Terrassen auf unterschiedlichen Niveaus lässt einerseits den natürlichen Boden unter dem Gebäude durchfliessen und führt andererseits durch eine Sequenz schattiger Portiken hinauf in die Innenräume. Um die Ateliers mit dem begehrten Nordlicht zu erhellen und die heisse Nachmittagssonne aus Westen abzuschirmen, wählte Doshi eine winkelförmige, in Nordsüdrichtung placierte Grundform mit geschlossenen parallelen Tragwänden. Tief eingeschnittene Öffnungen lassen zwar die Winde, nicht aber die heisse Sonnenstrahlung eindringen. Die Materialisierung mit roh belassenen Backsteinen und Béton brut evoziert Bilder der Industriearchitektur. Gleichzeitig erinnern die kruden Wandscheiben an Kahn und treten dabei in ein Spiel mit den gegeneinander verschobenen Deckenplatten, die an Le Corbusier denken lassen. Das Ergebnis verkommt aber nirgends zur Pastiche, sondern zeugt von einer sorgsam reflektierten Interpretation.

In den frühen sechziger Jahren beschloss die indische Regierung die Förderung ländlicher Zentren durch eine Politik der «regionalen Industrialisierung». Neue Fabriken und Wohnsiedlungen sollten am Rand der Dörfer und Städte angesiedelt werden, um den Menschen ihre Existenzgrundlage in der angestammten Umgebung zu sichern und so die Landflucht einzudämmen. Doshi und seine Mitarbeiter entwickelten in ganz Indien nach ähnlichen Prinzipien Wohnsiedlungen von jeweils mehreren tausend Einheiten. Die Grundstrategie bestand meist darin, nur Infrastruktur und Erschliessung sowie eine Anzahl unterschiedlicher Haustypen bereitzustellen und die künftigen Bewohner - wie bis anhin üblich - ihre Behausungen ihren Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten gemäss selbst fertig bauen zu lassen. Der optimale Einbezug kühlender Winde sowie die differenzierte Ausarbeitung eines Wegsystems, das die verschiedenen Verkehrsbereiche entflechtet, waren ebenso architektonische Themen wie der graduelle Übergang von der Privatsphäre zum öffentlichen Raum: Über Aussentreppen oder geschützte Vorzonen gelangt man aus den Wohnungen in schmale Strassen oder kleine Höfe und dann zu Gemeinschaftsanlagen wie Schulen, Theater oder Markt.

Beim Projekt für das IIM in Bangalore Ende der siebziger Jahre bahnte sich an, was später Doshis Handschrift auszeichnen sollte: Architektur vermengte sich mit Urbanismus und Landschaftsarchitektur zu einer kohärenten Synthese - die intensive Beschäftigung mit der indischen Geisteshaltung und ihren Mythologien begann sich in einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Bauaufgabe niederzuschlagen. Doshis Bild eines von Ranken durchzogenen Netzes aus Innen- und Aussenräumen manifestierte sich in einem Gebäudekomplex mit langen Rues intérieures, die den Blick immer wieder freigeben zum Himmel und in üppig bepflanzte Höfe. Keine Hauptrichtung dominiert. Vielmehr gliedert und hierarchisiert eine Vielzahl von Achsen die verschiedenen Gebäude, deren genaue Beziehung zueinander nur durch die Begehung erfahrbar wird. Beim IIM Bangalore diente einerseits die Lösung von Kahn in Ahmedabad als Vorbild, andererseits steht es in der Tradition alter islamischer Paläste und hinduistischer Tempelanlagen.


Ein gebautes Manifest

Im Projekt für sein eigenes Atelier aus dem Jahre 1981 verdichteten sich Doshis Ideen zu einem gebauten Manifest. Für das Sangath, wie der Bau heisst, mag das legendäre Atelier von Le Corbusier an der Rue de Sèvres Pate gestanden haben, wo die Trennung zwischen Arbeit, Lehre und Forschung ebenfalls nicht klar definiert war. Das Sangath ist eine Oase am Stadtrand Ahmedabads mit grasbedeckten Erdwällen, Terrassen und Kaskaden. Der lang gestreckte Baukörper ist - um die Silhouette tief zu halten und das Erdreich als kühlende Speichermasse zu nutzen - halb im Boden versenkt und tritt vor allem durch eine Anzahl Dachbogen in Erscheinung, die mit weissem chinesischem Mosaik belegt sind, um die Sonnenstrahlung zu reflektieren. Ebenso vielfältig wie die äusseren Niveaus sind die inneren: Ein-, zwei- und dreigeschossige Räume überlagern sich und schaffen unter dem traditionellen Tonnendach eine moderne Wohnform. Eine labyrinthische Raumfolge, die durch Pfeiler synkopiert wird, charakterisiert das Innere.

Die Bharat Diamond Bourse (BDB) in Bombay, die zurzeit gebaut wird, ist Doshis bisher grösstes Projekt - eine Stadt in der Stadt, geplant für 30 000 Menschen. Ein Konglomerat aus unterschiedlich hohen und breiten, blitzförmigen Riegeln besetzt das trapezoide Grundstück. Ähnlich einer Ablagerung von Edelsteinen scheinen sie erstarrt zu bizarren Formen. Die Ecken der Baukörper sind stellenweise mit reflektierendem Glas überzogen und wirken wie kristallisiert. Die BDB steht paradigmatisch für Doshis zunehmend intuitiv und assoziativ geprägtes Schaffen.

Im Laufe von Doshis Karriere durchdrang Gandhi'scher Mystizismus seine corbusianisch- rationalen Entwurfsgedanken der frühen Jahre immer mehr. Doshis Verdienst ist die Umdeutung und Adaption der zentralen Prinzipien der Moderne in ein Amalgam spezifisch indischer Architektur. Die Rolle seiner Mentoren Le Corbusier und Kahn wertet Doshi denn auch als ambivalent: «Auch wenn ich von grossen Meistern lernte, war ich doch ausserhalb meiner selbst erzogen. Deshalb musste ich mich erst häuten, um wieder zu werden.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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