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Urban Reality
Neue Zürcher Zeitung

Glanz und Elend in den Metropolen der Dritten Welt

Urbanisten und Architekten haben die Metropolen der Schwellen- und Entwicklungsländer entdeckt. Nachdem Rem Koolhaas das Lob der rasant wachsenden Megastädte auf der letzten Documenta gesungen hat, beschäftigt sich nun die Architekturbiennale von Venedig mit deren Glanz und Elend; und auch auf der vom 4. bis zum 6. Juli in Berlin durchgeführten Weltkonferenz «Urban 21» spielte dieses brisante Thema eine wichtige Rolle.

7. Juli 2000 - Robert Kaltenbrunner
Die Riesenstädte der Dritten Welt - von internationalen Experten und einheimischen Eliten lange als «entwicklungshemmend» oder gar als «parasitär» abqualifiziert - scheinen allen Kassandrarufen zum Trotz zu überleben, denn: «in der Stadt hungert es sich besser». Ein gigantischer, weitgehend unkontrollierter Wachstumsprozess vollzieht sich seit Jahrzehnten in Bombay und Lagos, in Jakarta und Kairo, in Mexiko, Kalkutta oder Lima. Der Hintergrund scheint so banal wie unabänderlich: Einseitige Industrieförderung führt zur Vernachlässigung der Landwirtschaft. Die schlechten Erwerbschancen im Agrarsektor treiben die verarmte Bevölkerung in die Ballungszentren. Andererseits wirken die Metropolen wegen ihres grösseren öffentlichen Dienstleistungsangebots anziehend. Hier konzentrieren sich die Schulen und Universitäten, hier ist die medizinische Versorgung besser. Hinzu kommt die Hoffnung vieler Schulabgänger, einen «White collar»-Job zu finden, der ihrem Qualifikationsstand angemessen scheint.


Sogwirkungen

Metropolen werden heute weniger als Orte denn vielmehr als verdinglichte Erwartungshaltungen verstanden. Es sind wahre Massen, die in diese Riesenstädte strömen, um ihre Zukunft zu sichern: Arbeitssuchende, vom Land «vertriebene» Migranten, die sich im Zuge der - eher wirtschaftlichen denn gesellschaftlichen - Modernisierung in der Stadt eine neue, bessere Lebensgrundlage erhoffen. Zusammen mit hohen Geburtenraten kann dies zu einer explosiven Situation führen. Kein Platz, kein Job, kein Geld - was tun? Als Konsequenz versorgen sich die ärmsten Bevölkerungsgruppen zum Teil auf informelle, ja illegale Weise mit Obdach.

Wo immer sich ein kleines Fleckchen findet, schlagen die Zuwanderer ihr Quartier auf: zwischen den Sandhaufen vor einer Grossbaustelle, wo schon wieder ein neuer Wolkenkratzer entsteht, auf der Müllkippe am Stadtrand, in den wackeligen Treppenhäusern einer überbelegten Mietskaserne, an den Bahngleisen oder gleich auf dem Gehsteig.

Im grössten Elendsviertel Manilas, dem Tondo Foreshoreland, lebten schon vor 25 Jahren über 200 000 Menschen auf einer Fläche von 147 Hektaren unter unglaublichen Bedingungen. In Bombay sind die Quartiere aus Wellblech und Pappe zu riesigen Kolonien zusammengewachsen. Sechs, acht Menschen hausen in einem winzigen Raum, der meist von einem «Slumlord» zu Wuchermieten verpachtet wird, fast immer ohne Wasser und ohne Latrinen. Wenn es regnet, verwandeln sich die schmalen Gänge zwischen den Hütten in Morast, der den Menschen bis zu den Knien steht.


Zeichen für den Neubeginn

Gecekondu oder Favela, Barriada oder Bidonville werden solche Siedlungen genannt. Gross sind die Unterschiede zwischen ihnen nicht. Für den Zuwanderer sind sie einerseits Endpunkt der Landflucht, andererseits Symbol der Hoffnung auf ein besseres Einkommen, ein leichteres Leben und mehr Zukunft. Der Platz dieser ersten Bleibe, mit dem der Anspruch auf die Teilhabe am Reichtum der Stadt markiert wird, ist oft so provisorisch wie die Hütte selbst: Irgendein bisher ungenutztes Stück Land wird besetzt, das natürlich möglichst nah am städtischen Treiben liegen soll - und damit sowohl an Arbeitsgelegenheiten wie an der städtischen Infrastruktur von Wasser, Strom und Kanalisation. Den Arrivierten sind sie als Zeichen der noch nicht vollzogenen «Entwicklung» ein Dorn im Auge. Nur wenn Wahlen anstehen, verspricht man illegalen Siedlern schon mal einen Rechtstitel und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Kommt es hart auf hart, dann wird kurzerhand geräumt. Ein Teufelskreis!

Es dauerte geraume Zeit, bis die Vereinten Nationen sich dieses seit langem schwelenden Problems annahmen und 1976 in Vancouver zur ersten Weltsiedlungskonferenz «Habitat» einluden. Doch greifbare Verbesserungen waren kaum zu vermelden. Nur zu gern beschränkte man sich in den betroffenen Ländern darauf, mit den Slums gleich auch mögliche Unruheherde zu beseitigen, oder man bevorzugte eine sichtbare, d. h. repräsentative Modernisierung der Stadt. Immerhin bewirkte die Konferenz mittelbar einen Bewusstseinswandel: Bestand zuvor die gängige Einstellung darin, «Slum clearence» zu betreiben (was auf gewaltsame Beseitigung von Slums oder Squattersiedlungen und die rücksichtslose Vertreibung ihrer Bewohner hinauslief), so reichte das Spektrum der Entscheidungen nun vom Tolerieren illegaler Siedlungen bis hin zu Programmen, die sich an der realen Kaufkraft der Zielgruppe orientieren, etwa «Sites-and-Services-Projekten» oder «Upgrading-Projekten». Ohne grossen Erfolg allerdings - was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die Standards von Planern stammten, die bestimmte Vorstellungen von «menschenwürdigem» Wohnen mitbrachten.

Ohnehin ist den Bewohnern durch Wohnbaumassnahmen allein nicht geholfen. Damit werden nur Symptome, nicht die Ursachen des Problems angegangen. Die Hoffnung, dass ein Mehr an Wohnungen das Elend überwinden hilft, ist trügerisch. Notwendig sind gleichzeitig beschäftigungswirksame Massnahmen. Spätestens hier hapert es. Einzig die «Schattenwirtschaft» - Ausbeutungsmaschinerie und Hoffnungsschimmer in einem - wirkt als transitorische Grauzone zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit und ist weiterhin (allen Vorbehalten zum Trotz) die Überlebensnische schlechthin. - Es hat sich seit «Habitat» wenig, zu wenig geändert. Zu vielfältig und ineinander verstrickt sind Ursachen, Wirkungen und Abhängigkeiten. Zu hoffen aber ist, dass die nach «mehr Ethik» verlangende Architekturbiennale von Venedig und die Weltkonferenz «Urban 21», die vom 4. bis zum 6. Juli in Berlin stattgefunden hat, sich nicht in wohlfeilen Plädoyers erschöpfen werden, sondern die Teilnehmer zum Agieren zwingen. In kleinen Schritten, aber auf allen Ebenen. Denn Wohnen ist ein Grundbedürfnis des Menschen und verlangt nach seinem Recht. Nicht nur im Villenquartier.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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