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ländliche klanglandschaften
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Unsere landschaftliche Umwelt, der gelebte Raum unserer Städte und Dörfer, vermittelt sich in komplexer Weise über alle Wahrnehmungsmodi: Sehen, Hören, Riechen, Tasten. Wenn ich das Hören und mit ihm die Klanglandschaft herausgreife, treffe ich nicht die Wahl der Ausschließlichkeit, sondern akzentuiere einen bestimmten Aspekt.

11. Dezember 2001 - Justin Winkler
Wenn ich nun sage, dass das Hören beziehungsweise die von ihm vermittelten Klangphänomene das Zeithafte, Dynamische betonen, heißt das nicht, dass das Sehen oder das Riechen diese Aspekte nicht realisierten. Jeder Wahrnehmungsmodus hat seine Stärke und verbindet sich in seiner alltäglichen Arbeit synästhetisch mit den anderen. Es ist aber ein menschliches Privileg, einen Wahrnehmungsmodus „rein“ zu denken und zu praktizieren zu versuchen, um dadurch seine spezifischen Leistungen zu erkennen.

Glockenschlag und Rauschen

Die Elemente der Klanglandschaft eines Dorfes – die Siedlung, das umgebende freie Land und der Wald – können in einem System von Gegensatzpaaren charakterisiert werden: vom reinen Ton zum reinen Rauschen. Ich nehme als Beispiele den Glockenklang vom Kirchturm und den Klangteppich von Feld und Wald. Der Glockenschlag ist kurz und prägnant, punkthaft, Träger von sozialer Information und Symbolen. Das Grundrauschen der weiteren Landschaft ist anhaltend und diffus, atmosphärisch stimmmungshaft. Der Glockenklang zieht den Wahrnehmungsraum zusammen, zentriert ihn auf Ort und Zeitpunkt des Schlages. Das Grundgeräusch weitet den Wahrnehmungsraum, ja schafft überhaupt den Raum in unserer Wahrnehmung. Eine „stille“ Landschaft ist eine solche mit Grundgeräusch, während das Eintreten von absoluter Stille die Raumempfindung zerstört.

Wenn Sie ein akustisches Logo eines Dorfes machen müssten, würden Sie die Eignung des Glockenklanges des Kirchturms als eines der ersten Beispiele prüfen. Dies erstens aus dem ganz praktischen Grund, weil er kurz ist und zweitens dank seiner Prägnanz, die wiederum aufzuteilen ist in die Bedeutungen, die er aus biographischen Gründen für Sie selbst hat und die stereotyp zu nennenden Bedeutungen, die er für jemanden mit dem Dorf nicht Vertrauten hat.

Zentrierender Klang

Nun ist viel bekannt über die historische und aktuelle Dynamik des zeitlich und sozial strukturierenden Geläuts. Der zentrierende, astringierende Charakter des Glockenklanges erweist sich als gesellschaftlicher Regulator, als Verkörperung der Zeitdisziplin und aller Arten von institutioneller Disziplin – er hat seine Ableger in den Standuhren, Schulglocken, Fabriksirenen, Autohupen.

Der französische Historiker Alain Corbin hat die Macht dieses landschaftlichen Klangelements in seinem an Quellen reichen Werk „Die Glocken der Erde“ ausgeführt. Er beginnt mit der Schilderung des Streits zwischen den Sirenen- und den Glocken-BefürworterInnenn in dem kleinen normannischen Ort Lonlay-l'Abbaye. Seit der Zerstörung des Kirchturmes im Zweiten Weltkrieg ersetzte das Heulen der Feuerwehrsirene das Läuten der Glocken als Zeitgeber. Nach der Wiedererrichtung des Turms Ende der fünfziger Jahre sollte die Sirene wieder von den Glocken abgelöst werden. Die Emotionen über diese Rückkehr zu einer innerhalb eines Jahrzehnts ungewohnt gewordenen Normalität gingen indessen hoch, die Verfechter des mittlerweile vertrauten Sirenenklangs liefen Sturm. Die Lösung des Problems, das die ganze Gemeinde in eine tiefe Krise stürzte, wurde erst durch Vermittlung von emotional nicht betroffenen Auswärtigen gefunden: Seither heult und läutet es gleichzeitig zu Mittag.

In diesem Glocken-Sirenen-Zeitzeichen kommt zum Ausdruck, wie sehr die Klanglandschaft, im Unterschied zur visualisierten Landschaft, nicht so sehr ein äußerlich erstreckter Raum ist, sondern ein sozial bemächtigtes Territorium. Nicht von ungefähr wird der Klang der Glocken traditionell als „Stimme“ bezeichnet, und als Stimme ist sie Zeitdiktat, Verhaltensaufforderung und Sicherheitslinie zugleich. Glockenklang definiert Zeit, Gebiet, Hierarchien, Ankündigungen, Aufgebote, Alarme, Festlichkeiten: Und quer zur funktionalen Vielfalt hat das Läuten der Glocken seine Codes, die gleichsam lokale Dialekte darstellen.

In dem katholischen Dorf Gonten (Appenzell-Innerrhoden), eine von verstreuten Einzelhöfen geprägte voralpine Siedlungslandschaft, wurde das Wetterläuten 1969 nach über zwanzigjähriger Unterbrechung wieder eingeführt. „Bei einem Gewitter tun sie dann auch [läuten], aber das ist auch nur im Sommer, aber das empfindet man dann auch als angenehm, das tut dann einfach ein wenig beruhigen.“ Als müsste es sein, beginnen im Laufe des weiteren Gesprächs mit diesem älteren Bewohner von Gonten die Kirchenglocken mit dem Wetterläuten. Er unterbricht den Bericht über sein Misstrauen dem radiophonen Wetterbericht gegenüber und legt mit Bezug auf das Geläut übergangslos ein: „Das tut ein wenig beruhigen, da gibt es also noch ziemliche Gewitter, das ist dann schon ein bisschen unheimlich. Und dann, wenn es anfängt läuten, das beruhigt einfach ein bisschen.“ Ist das „Sprechen“ der Zeit gliedernden Geläute ein vergleichsweise anonymes, kaum mehr beachtetes und Routinen bestätigendes Sprechen der Zeitordnung als sozialer Konvention, wird hier der Hörende unmittelbar angesprochen, das Geläut wird Subjekt im Dialog.

Man kann nun mit Recht einwenden, dass solches für die Stadt auch gelte – zumindest gegolten habe. Tatsächlich haben sich die Wahrnehmungsräume der Städte transformiert. Die den Wahrnehmungsraum und -radius fokussierende und steuernde Funktion ist von den Geläuten zum Verkehr übergegangen, die genannten dialektalen Codes (die leicht zu einer romantisierenden Sicht verleiten könnten) sind in den diffuseren Zeitprofilen der Verkehrspulse abhanden gekommen.

Weitender Klang

Ein Bewohner des kleinen Dorfes Lourtier in einem Walliser Hochalpental nannte sein Tal „still“ und präzisierte: „zu still“. Aufgrund unserer Tonaufnahmen und Schallpegelmessungen mussten wir dieses Tal aber zu den lärmigsten der von uns dokumentierten Orte rechnen: Im Hochsommer hüllt das Rauschen des Bergflusses Tag und Nacht den dort lebenden Menschen mit nie unter 43 Dezibel ein. Wo ist da die Stille? Aus dem scheinbaren Widerspruch lassen sich zwei Charakteristiken des landschaftlichen Hörraumes ablesen:
1) Der Wahrnehmungsprozess.
Ein Dauergeräusch verschwindet aus der Wahrnehmung. Wenn wir in einen Raum eintreten, der von einem bestimmten Dauergeräusch erfüllt ist – ein Wasserrauschen, ein Wald mit Vogelchor, eine monotone handwerkliche Verrichtung – wird unsere Aufmerksamkeit nicht mehr den Bestand, sondern nur noch die Veränderung registrieren. Ähnliches kennen wir vom Riechen. Verweilen wir im Dauergeräusch oder -geruch, wird der Bezug zum Phänomen durch den Mangel an zeitlicher Strukturierung geschwächt. Während unser Riechen nicht in der Lage ist, willentlich Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit wiederherzustellen, kann dies das Hören. Man wird sich dann mit dem visuellen Sprachbild nicht ganz korrekt so ausdrücken, dass das Grundrauschen, obwohl es uns weiterhin abstandslos gänzlich umfängt, „im Hintergrund“ verfügbar ist (WINKLER 1998). In der landschaftlichen Dimension entscheiden demnach nicht nur Anwesenheit oder Abwesenheit eines Klangphänomens selbst über dessen Wahrnehmung, sondern die wahrnehmende oder ausblendende Aufmerksamkeit.
2) Die soziale Bedeutung.
Stille in der vom zitierten Dorfbewohner gemeinten Qualität ist die Abwesenheit von Klängen, die auf soziales Leben hinweisen. Die Aussage, es sei „zu still“, vergleicht die in der Vergangenheit erfahrene und selbst mitgestaltete Lebendigkeit des sozialen Raumes mit derjenigen des in der Jetztzeit veränderten Dorfes. Das Klangliche, das die Wortwahl „Stille“ evoziert, ist nur ein Aspekt dieses Wandels, mit dem viel Verschiedenes bezeichnet wird – vom alltäglichen Dorfleben über die jahreszeitlichen alpwirtschaftlichen Zyklen bis zur Bewältigung von Naturkatastrophen.

Nun ereignet sich in der kulturell bestimmten Klanglandschaft eine dem Dauergeräusch vergleichbare Ausblendung von Einzelereignissen. Stetige Bewegungen und Regulationsklänge wie Stundenschläge oder Zugsvorbeifahrten können dem Überhören anheim fallen. Die chronometrische Zeit ist über die gesamtgesellschaftliche Taktung internalisiert worden. Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung liegen dann ganz nahe beieinander und erweisen die Aufmerksamkeitsleistung als Ausprägung sozialer Alltagspraxis. So ist auch nachvollziehbar, dass StädterInnen, die auf dem Land „Stille“ suchen, vor allem eine Chance zum Nichtwahrnehmen-Müssen erwarten, die Freiheit von Anklängen an disziplinierende Routinen.

Wenn eine Gesprächpartnerin, die in Gonten nahe der Hauptstraße wohnt, sagt, „man hat das Gefühl, die Leute kommen nicht zur Ruhe“, scheint die „Bewegungssuggestion“ des Klanglichen am Werk zu sein. Es findet ein eigenartiges Hinausverlegen der eigenen hörenden Unruhe in das „Draußen“ statt: „Ja, und im Sommer dann empfinde ich den Lärm dann auch noch mehr als im Winter, da ist länger Tag, man hat das Gefühl, die Leute kommen nicht zur Ruhe, müssen immer noch keien (lärmen), und auch die Bauern sind dann immer noch dran, dann führen sie noch an einem Abend Gülle aus, da keit (lärmt) alles. Je älter man wird, desto weniger kann man es ertragen, auch wenn die Kinder laut sind. (...) Wenn ich ausgeruht bin am Morgen, dann denke ich viel weniger dran.“

Landschaft der Nacht

Die visuell wahrgenommene und gedachte Landschaft ist diejenige des Lichttages. Obwohl die Nacht auch außerhalb der Städte selten ganz lichtlos ist, wird sie nicht als die Domäne des Sehens betrachtet. In wenigen Gedichtzeilen über das Einbrechen der Sommernacht leistet Rilke 1901 die Beschreibung des Überganges der Tageslandschaft zur Nachtlandschaft als des Überganges vom Sehen zum Hören:

dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute, und seltsam weit, als ob es mehr bedeute, hört man das Wenige, das noch geschieht.

Mit „seltsam weit“ ist ein Begriff von Ferne gegeben, der die nach außen gerichtete Ferne des Sehens in der Dämmerung ersetzt. Der geometrische Raum verschwindet, der Augenmensch wird auf seine Nähe eingeschränkt. „Seltsam“ drückt aus, dass die Verhältnisse als ver-rückt wahrgenommen werden: In dem Maße, wie das Dunkel den Gesichtssinn ausblendet, holt das weiter Hinaushören in der Dämmerung den gesamten Umkreis näher heran. Dies entspricht der phänomenologischen Eigenschaft des Hörens als eines „Näherns“ oder „Verbindens“. Ein Klangphänomen wirkt ohne sein visuelles Korrelat näher als wir es empfinden: Das tagsüber im Hof draußen wahrgenommene Plätschern des Brunnens befindet sich im Nachtdunkel gewissermaßen im Zimmer des schlaflosen Schläfers.

In der Nacht lassen die Klangintensitäten nach. Das von Rilke evozierte „Wenige“ gewinnt an Gewicht – „als ob es mehr bedeute“ sagt er. In der Nacht erreicht die Klangumwelt den Horizont der Stille, den Horizont des Unhörbarwerdens. Wir erfahren diese Nachtlandschaften meist nur an der Schwelle, in den Minuten des Einschlafens, so dass der individuell wahrgenommene Horizont der Stille auf den Augenblick des Verlöschens des Bewusstseins im Schlaf bezogen ist. Dass das Ohr, wie wir wissen, physiologisch nie schläft, sondern als Bezug zur Welt offen bleibt, ändert daran nichts.

Eine durch Heirat auf einen abgelegenen Einzelhof in Gonten gelangte Bäuerin berichtet vom Ort ihrer Kindheit: „Und man hat zum Beispiel, dort wo ich aufgewachsen bin, die Sitter hat man ständig, jahraus jahrein gehört. Das ist ein Wasserfall, der war vielleicht so stubenhoch, so küchenhoch, den hat man Tag und Nacht gehört, mit dem mussten wir einschlafen, den haben wir gebraucht, diesen Lärm mussten wir haben, damit wir schlafen konnten. Den ganzen Tag haben wir das Ding nicht gehört (...), aber wir mussten das haben, den haben wir immer gesucht, wenn wir die Augen geschlossen haben, mussten wir diesen Ton haben, dann konnten wir schlafen. Und später hat uns der, sicher eben am Anfang, unheimlich gefehlt, als wir umgezogen sind.“

Der objektive Horizont der Stille verändert sich im Tageslauf. Die beobachtbaren oder messbaren Veränderungen der ereignisarmen Intervalle, die das nicht unterschreitbare Grundgeräusch darstellen, gestatten uns, eine Aussage über die Dynamik und Charakteristik einer örtlichen Klanglandschaft zu machen. Interessanterweise erweist sich darin die tiefe Nacht in der mittelgroßen Stadt als ebenso still wie jene eines größeren Dorfes, wohingegen Landschaften mit Bergflüssen im circadianen Rhythmus wenig Tag-Nacht-Veränderungen aufweisen.

Mit der Hervorhebung nicht des Horizontes des Lärms, durch den wir uns bezüglich Komfort und Gesundheit besonders bedroht fühlen, sondern des Horizontes des Grundgeräusches lenken wir die Aufmerksamkeit in Bereiche, die nicht nur von der Alltagswahrnehmung, sondern auch von den ästhetischen Modellen in Medien und Künsten ausgeblendet werden. Wenn wir zudem methodisch – und etwas experimentell – unsere Landschaftswahrnehmung von der Orientierung am Raum des Lichttages zum Raum der Nacht verschieben, erzeugen wir eine Aufmerksamkeit, die für die Neubewertung dörflich-banaler Landschaften fruchtbar werden könnte. l


Justin Winkler ist Privatdozent für Humangeografie und Gastprofessor für Landschaftsästhetik am Fachbereich Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel.

Literatur:
CORBIN, Alain (1994): Les cloches de la terre. Paysage sonore et culture sensible dans les campagnes au XIXe siècle. Albin Michel, Paris.
WINKLER, Justin (1998): Les horizons du bruit.
Conférence de l'A.M.E., 28 août, Saillon.

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