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Geistliche Kraftzentren
Neue Zürcher Zeitung

Die Renaissance des Kirchenbaus in Deutschland

Spätestens zu Beginn der achtziger Jahre schien in Deutschland das Thema Kirchenbau erledigt zu sein. Statt neue Kirchen zu bauen, stellten sich viele Gemeinden die Frage, wie sie angesichts schrumpfender Mitgliederzahlen ihre Gotteshäuser künftig nutzen sollten. Nun boomt aber im deutschsprachigen Raum plötzlich der Kirchenbau.

28. Januar 2002 - Jürgen Tietz
Mit dem wachsenden Desinteresse weiter Bevölkerungskreise an institutionalisierter Religion wurde der Unterhalt bestehender Gotteshäuser vor allem in den Grossstädten zu einem ökonomischen Problem. Die meist eher hilflos anmutenden Antworten auf diese Herausforderung reichten von der Umgestaltung der Sakralräume in multifunktionale Gemeindezentren bis hin zur Umwidmung ganzer Kirchen zu Konzerthallen, Museen oder gar Wohnhäusern. Doch scheinbar aus dem Nichts heraus ist das Thema Kirchenbau heute wieder aktuell. Die renommierte Fachzeitschrift «Kunst und Kirche» spricht gar von einem «Phönix Kirchenbau». Und tatsächlich: In ganz Deutschland - und nicht nur dort - entsteht derzeit eine Reihe bemerkenswerter neuer Kirchen. Dabei handelt es sich um mehr als nur um eine zufällige zeitliche Überlappung der Planungen. Die Ursachen dieser Renaissance sind vielfältig: Zum einen sind in den neuen Bundesländern zarte Knospen neu aufkeimender Gemeinden zu sehen, zum andern mussten in der alten Bundesrepublik einige in die Jahre gekommene Kirchen durch Neubauten ersetzt werden.


Sehnsucht nach Spiritualität

Doch unter diesen eher pragmatischen Überlegungen für einen Kirchenneubau liegt auch die allerorten zu beobachtende Sehnsucht nach einer - nicht konfessionsgebundenen - Religiosität oder Spiritualität verborgen. Darauf lässt zumindest einer der bemerkenswertesten «sakralen» Neubauten schliessen, das «Haus der Stille» der Benediktinerabtei Königsmünster in Meschede von Peter Kulka aus Köln. Beim «Haus der Stille» entspricht der Reduzierung der Formen auf kubische Grundelemente die absolute Kargheit des Baumaterials Sichtbeton. So erlangt etwa die schmale Kapelle gerade dank der Entäusserung von allem Überflüssigen ihre hohe Unmittelbarkeit. Der bereits von aussen wahrnehmbaren Konzentration des Gebäudes auf das Wesentliche entspricht seine Funktion als ein Kloster auf Zeit. Es ist ein Platz jenseits des Alltags. Ein Ort, der Raum bietet für Versenkung und Besinnung und der doch bei aller «Armut» über ein grosses Mass an Anmut und sinnlicher Wirkung verfügt.

So schliesst Kulkas strenges Kloster fast nahtlos an jene Gedanken zu Armut und Leere an, die einst Romano Guardini und Rudolf Schwarz formuliert haben. Damit gibt Kulka dem Kirchenbau jene formale und inhaltliche Dimension zurück, die dieser als eine der zentralen Bauaufgaben des 20. Jahrhunderts lange Zeit besass. Zwei entscheidende Wendemarken kennzeichnen den deutschen Kirchenbau des 20. Jahrhunderts. Einerseits die verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, die eine Welle von Reparaturen und Neubauten von Kirchen nach sich zogen, andererseits das Zweite Vatikanische Konzil. Dessen Beschluss, die Zelebrationsrichtung des Gottesdienstes umzukehren, schlug sich unmittelbar in der räumlichen Ordnung - zumindest der Altäre - in den Kirchen nieder. Doch die Kirchenbaudiskussion setzte in Deutschland bereits lange vor diesen beiden Wendemarken ein. In den zwanziger Jahren hatten Gottfried Böhm mit seinem Idealmodell der Circumstantes-Kirche sowie Rudolf Schwarz mit der Idee der Wegkirche, wie er sie in Aachen in St. Fronleichnam (1929/31) exemplarisch verwirklichen konnte, für eine geistige Erneuerung und Belebung des Kirchenbaus gesorgt. Der Suche nach einer liturgischen Erneuerung entsprach die Suche nach einer modernen Formensprache für den Sakralbau. Konfessionsübergreifend trat dabei die Idee des Zentralraumes in den Vordergrund, wie ihn Otto Bartning 1922 mit dem Entwurf seiner Sternkirche formulierte. Zahlreiche der bereits vor 1933 entwickelten Gedanken zum Kirchenbau wurden nach 1945 wieder aufgenommen und konnten dann ihre eigentliche Wirkung entfalten, ehe der Bedarf an Kirchenneubauten Ende der sechziger Jahre deutlich abnahm.


Neue Sakralbaukunst

Der Blick auf die in den letzten Jahren fertiggestellten Kirchen verdeutlicht, dass es bei deren heutiger Renaissance nicht um eine normierte Massenproduktion von Sakralräumen geht. Ganz im Gegenteil. Der aktuellen Entwicklung wird eher der Begriff der Kirchenbaukunst gerecht. Die neuen Sakralräume kennzeichnet eine selbstbewusste Raum- und Materialqualität. Etwa wenn Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth mit ihrer kleinen evangelischen «Kapelle der Versöhnung» auf dem ehemaligen Berliner Mauerstreifen mit dem ungewöhnlichen Baustoff Lehm experimentieren. Von einer Holzlamellenkonstruktion eingefasst, bietet der fensterlose eiförmige Lehmraum mit seinem Oberlicht eine höchst sinnliche und konzentrierte Wirkung. Wenn man bedenkt, dass kaum einer der jetzt hervortretenden Architekten je die Gelegenheit hatte, bereits zuvor eine Kirche zu verwirklichen, dann muss das hohe Niveau der neuen Kirchenbauten überraschen. Dabei ist zu beobachten, dass trotz dem grossen Interesse an Materialexperimenten, wie sie die Kapelle von Reitermann und Sassenroth kennzeichnen, die wenigsten Bauten einer postmodernen Verspieltheit verhaftet bleiben. Dagegen scheint es für die meisten Architekten geradezu ein Akt der Befreiung zu sein, dass sich ihnen neben dem alltäglichen Baugeschäft die Möglichkeit bietet, mit einer Kirche ein hoch konzentriertes und zugleich innovatives Bauwerk zu schaffen.

Auf welchem Niveau ein solches Erstlingswerk stehen kann, beweist das Katholische Zentrum an der Hannoverschen Strasse in Berlin, das Thomas Höger und Sarah Hare entworfen haben. Ihnen bot sich die Chance, auf engem Raum sogar gleich zwei Sakralräume zu schaffen: einerseits die Kirche St. Thomas von Aquin und andererseits die kleine Kapelle im Haus der Bischofskonferenz. Beide Bauten kennzeichnet eine subtile Lichtregie. So wurde der rechteckige Kirchenraum von St. Thomas von Aquin mit flachen Granitsteinen aufgemauert, zwischen denen Glasplatten mit den gleichen Abmessungen eingesetzt wurden. Im oberen Bereich nimmt deren Zahl deutlich zu. Tagsüber fällt diffuses Licht in den Andachtsraum, abends dagegen scheint der illuminierte Kirchenraum von innen heraus zu leuchten. In der nahen Kapelle der Bischofskonferenz wird dieses Lichterlebnis noch gesteigert. Dort sind den beiden grossen Fensterflächen zur Strasse hin weisse Alabasterplatten vorgeblendet, von deren Halterung nur kleine Edelstahlkreuze sichtbar sind. So entsteht eine hell schimmernde, diaphane Wandfläche von fast schwebender Leichtigkeit. Ein meditativer Raum des Lichtes.

Neben die baukünstlerische Auseinandersetzung tritt eine intensive Beschäftigung mit den liturgischen Anforderungen angesichts der Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils, das nicht nur eine Veränderung der Zelebrationsrichtung mit sich brachte, sondern auch eine «tätige Teilnahme» der Gemeinde einforderte. Ablesbar wird dieses Ringen um eine veränderte «Kirchenordnung» in der ellipsenartig geschwungenen St.-Christophorus-Kirche auf der Nordseeinsel Sylt. Ihr Entwurf stammt von einem ausgewiesenen Kirchenbauexperten, dem Rudolf-Schwarz-Schüler Dieter G. Baumewerd (Münster). Während die gelbrote Backsteinfassade von St. Christophorus im unteren Bereich fast völlig geschlossen ist, wird sie im oberen, staffelartig zurückgezogenen Bereich von vertikalen Fensterschlitzen durchbrochen. Hohe Glasfugen an den beiden Schmalseiten des Baukörpers ermöglichen Einblicke in das ungewöhnliche Innere der Kirche.

Dort sind Ambo, Taufbecken und Altar einander gegenübergestellt. Um sie herum sind die Bänke ellipsenförmig angeordnet. Das architektonische Konzept der Ellipsenkirche spiegelt sich in der Struktur der Liturgie: Die Orte für Predigt und Eucharistiefeier sind voneinander getrennt und stehen doch in einem räumlichen Bezug zueinander. Die dadurch entstehende Bewegung können die Gemeindemitglieder im Idealfall nicht nur mit den Augen verfolgen. Vielmehr sind sie im Sinne einer «tätigen Teilnahme» aufgefordert, sie nachzuvollziehen. Gestärkt wird dadurch auch der Gemeinschaftsgedanke, denn die Gemeindemitglieder haben nicht nur den Gottesdienst im Blickfeld, sondern auch ihre Gemeinde. Zudem knüpft das Konzept der Ellipsenkirche nicht nur an die Kirchenbaudiskussion des 20. Jahrhunderts an, etwa an Böhms Circumstantes-Modell, sondern weiss sich tief in der christlichen Sakralbaukunst verankert, indem es das Motiv des Mönchschores aufnimmt.

Die Vielfalt der ästhetischen Formen, die intensive Auseinandersetzung mit den liturgischen Anforderungen an die Sakralräume und das insgesamt hohe baukünstlerische Niveau sprechen dafür, dass es sich bei der aktuellen Renaissance des Kirchenbaus nicht nur um ein Strohfeuer handelt. Inmitten der oft normierten Standardarchitektur unserer Städte scheinen die Gotteshäuser ihre alte Funktion als geistliche und architektonische Landmarken zurückzuerobern.

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