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Noblesse der Gründerzeit
Neue Zürcher Zeitung

Ein Bildband zur Ringstrassenarchitektur in Wien

7. Januar 2004 - Roman Hollenstein
Wien ist eine Stadt des 19. Jahrhunderts - noch heute und trotz seinem weit grösseren Erbe. Das demonstriert die Donaumetropole seit nunmehr 25 Jahren mit den Neujahrskonzerten. Doch die beschwingten Walzer sind nur ein sinnlich wahrnehmbarer Aspekt dieser Epoche. Ein anderer ist die Baukunst. Im spätklassizistischen Goldenen Saal des Musikvereins von Theophil Hansen gibt sie den heiteren Klängen erst Raum und Halt. Mit diesem Meisterwerk der Architektur der Gründerzeit schuf der gebürtige Däne das vielleicht nobelste Gebäude der Wiener Ringstrassenarchitektur. Zu deren Schönheit hatte er schon zuvor mit seinen palastartigen und doch antikisch einfachen Zinshäusern für den wohlhabenden Bürgerstand beigetragen. Später adelte er den Strassenzug, der nach einem Erlass von Kaiser Franz Joseph I. anstelle der einstigen Basteien als vier Kilometer langer Ring um Wiens Innenstadt gezogen wurde, mit den Tempelhallen des Parlamentsgebäudes. Diesen griechisch inspirierten Bauten des späteren Mentors von Otto Wagner antworten die neugotischen Interpretationen der Votivkirche von Heinrich Ferstel und des Rathauses von Friedrich Schmidt, die dem Rundbogenstil verpflichtete Oper von Eduard von der Nüll und August von Siccardsburg, vor allem aber die barock übersteigerte Neurenaissance des Kunst- und Naturhistorischen Museums, des Burgtheaters und der Neuen Hofburg, die Carl Hasenauer zusammen mit Gottfried Semper kreierte.

Obwohl in den Dekaden zwischen 1860 und 1890 an der Ringstrasse Hunderte von Palästen, Mietshäusern, Hotels, Verwaltungs- und Regierungsbauten, Hochschulen, Museen und Theater zum weltweit wohl grössten historistischen Ensemble vereint wurden, scheint nach den damaligen Aufnahmen die neue Stadt gleichsam über Nacht entstanden zu sein: Keine Baustelle trübt die Ansicht der Prachtsbauten. Einen Eindruck dieser architektonischen Perlenkette vermittelt nun ein Bildband mit Fotos aus der Entstehungszeit der lange in ihrem Wert unterschätzten Gebäude, die glücklicherweise dennoch aus dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs in neuem Glanz erstehen durften. Die gut ausgewählten Bilder geben nicht nur die Bauten in ihrem ursprünglichen Zustand wieder, sondern veranschaulichen auch eine frühe Zeit der Architekturfotografie: So lassen sich die bereits sehr unterschiedlichen Sichtweisen von Fotografen wie Victor Angerer, Carl Haack, Wilhelm Kral, August Stauda und Charles Scolik ausmachen.

Der eigentliche Meister aber war Michael Frankenstein (1843-1918), der seit 1870 in seinen sachlich präzisen Aufnahmen den exakt ins Zentrum gerückten Bauten eine unmittelbare, modern anmutende Präsenz verlieh. Der attraktive Bilderreigen wird abgerundet durch einen Überblick über die Architekten der Ringstrasse, durch das «Handbillet an Innenminister Bach», mit dem Kaiser Franz Joseph I. im Jahre 1857 seinen Willen zur Schaffung der Ringstrasse kundtat, durch Otto Wagners Würdigung der gründerzeitlichen Wiener Architektur sowie durch einen 1935 in der «Neuen Freien Presse» veröffentlichten Artikel, in welchem der Architekt Leopold Bauer die von der damaligen Avantgarde abgelehnte Ringstrasse städtebaulich und baukünstlerisch zu rehabilitieren sucht.


[Die Architektur der Wiener Ringstrasse. 1860-1900. Hrsg. Markus Kristan. Album-Verlag, Wien 2003. 119 S., Fr. 63.-.]

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