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Was ist schon „epochal“?
Spectrum

Eine zeitgemäße architektonische Ausdrucksweise muß reifen können. Beschleunigung, Medialisierung und die Fetischisierung nackter Neuigkeit stehen dem entgegen. Über die unselige Rolle, welche die Kritik dabei bisweilen spielt: eine Betrachtung.

16. Februar 2002 - Walter Zschokke
Wesentliche Themen der Architektur des 20. Jahrhunderts wurden von Le Corbusier bei seinem Entwurf für ein Mehrfamilienhaus in Genf angeschlagen, von dessen Stiegenhaus unser Bild einen Blick wiedergibt. Die „Maison Clarté“ (1932) ist ein Stahlbau mit ausgiebiger Verwendung von Glas. Ein Blick auf die Details und die diesbezüglichen Zeichnungen zeigt, wieviel seither an technischen und konzeptionellen Verbesserungen erfolgt ist. Die Bauteilindustrie hat ausgeklügelte Systeme für Metallfenster entwickelt; gravieren-de Konstruktionsfehler wurden nach Bauschäden ausgemerzt; heute können für viele Bauteile wirtschaftliche Stückzahlen produziert werden; die spezifische Erfahrung der Handwerker hat sich überhaupt erst herausgebildet; und die mittlerweile gestiegenen Ansprüche an Dämmwerte und bauphysikalische Wirkungsweisen wurden technisch und formal bewältigt.

Doch die Hauptthemen der Architektur haben sich in diesem Zeitraum nur unwesentlich verändert. Immer noch gelten „Licht, Luft, Öffnung“ sowie Leichtigkeit und Transparenz, aber auch Standardisierung und Industrialisierung als Maximen der Moderne. Farbigkeit und Materialwirkung spielen wechselnde Nebenrollen.

Das Beispiel zeigt, daß die Entfaltung einer architektonischen Ausdrucksweise im Einklang mit der Entwicklung der Technologie über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erfolgt. Daß überdies Zwischenspiele und Aufspaltungen verlangsamend wirken und einen komplexen, uneinheitlichen Pro- zeß charakterisieren, der in der Rückschau gern als geradlinig gezeichnet wird. In diesem Ablauf sehen sich Architekturkritik und ihre Exponenten gern als Förderer oder gar Weichensteller, indem immer wieder „epochale“ Ereignisse postuliert werden, die sich in der Regel hinterher als oberflächliche Moden oder formalistische Gags erweisen. Ein nicht geringer Teil der Fachwelt orientiert sich jedoch daran, verspricht sich davon individuellen Erfolg und kopiert mehr oder weniger begabt. Weil als Anschauungsmaterial nicht Bauwerke, sondern - meist geschönte - Abbildungen dienen und weil es eher die weniger begabten Architekten sind, die das Abkupfern betreiben, bleiben viele Bauten architektonisch auf halbem Weg stecken. So werden Städte und Dörfer angefüllt mit Halbheiten. Dieser verbreiteten Unselbständigkeit entspricht ei- ne Orientierungslosigkeit bei konkreten Aufgaben: Modische Muster werden übernommen und unreflektiert einem gänzlich anderen Kontext aufgesetzt.

Die Architekturpublizistik rea- giert mit pawlowschem Reflex auf die modischen Details, lobt das Produkt und verzichtet auf inhaltliche Auseinandersetzung und Eindringtiefe. Gebetsmühlenartig werden die immer gleichen, leeren Schlagworte hingeworfen, mit platten Metaphern wird vermieden, Sachverhalten auf den Grund zu gehen. Den Architekten genügt die Tatsache, daß ihre Bauten publiziert werden.

Solange keine negativen Wertungen abgegeben werden, ist es ihnen egal, was an Text dazugegeben wird. Für eine Diskussion von Für und Wider sind die Ausführungen sowieso zu kurz. Und so beißt sich die Katze in den Schwanz.

Architektonische Experimente werden immer wieder gern als Blickfänge eingesetzt, Fragen der Realisierbarkeit werden ausgeklammert, da zweidimensionale Bilder zum Publizieren ausreichen. Der anspruchsvolle Entwicklungsprozeß, wie er von Fachplanern und Bauindustrie zusammen mit dem Architekten noch geleistet werden müßte, bis ein neuer Ansatz ausgereift ist, stellt an diesen einiges an fachlichen Ansprüchen und erfordert Kooperations- und Gesprächsfähigkeit. Werden diese Aspekte vernachlässigt, reduzieren sich die Architekten zu Architekturmalern - nur halt mit den zeitgenössischen Mitteln computergestützter Darstellung. Die Kritiker mutieren zu Interpreten mehr oder weniger geglückter Bilder von postulierten Experimenten.

In solchen Phasen übertriebenen Starkults und der Verherrlichung unausgereifter Konzepte werden Rückgriffe auf einfache Lösungen dankbar angenommen. Man denke nur an die epidemische Ausbreitung der populistischen Strömung der Postmoderne und ihre dankbare Annahme seitens schlechter Architekten mit ihren plumpen Grapschereien nach vermeintlich historischen „klassischen“ Formen und deren schwerfällige Umsetzung. Daß eine fundierte Kritik an den Fehlern der Moderne deren weitere Entwicklung und Verbreitung provozierte und ihr zu neuerlicher Konjunktur verhalf, sei nur nebenbei angemerkt.

Der Ball läge also bei den Architekten, die den formalen Experimenten das nötige Unterfutter aus technischer und ökonomischer Realisierbarkeit mitliefern sollten, damit Vertrauen in die neuen Formen entstehen und sich verfestigen kann.

Das hieße verlangsamen, hieße auch, Erfahrungen bei den Handwerkern wachsen zu lassen, die mit neuen Techniken umgehen und Produktionsprozesse optimieren können müssen, um wirtschaftlich gesund zu bleiben. Die permanente Flucht nach vorn in die Innovation um der Innovation willen läßt diesen wichtigen Faktor unberücksichtigt und vernichtet die Erfahrung. Vor lauter Umschulen gehen die Inhalte verloren. Es gilt zu akzeptieren, daß die Architektur eine langsame Kunst ist, deren Rhythmus noch von anderen Faktoren mitbestimmt wird als bloß vom Kitzel schnell hingeworfener Avantgardismen. Das Scheitern der Avantgarden der zwanziger Jahre an den Produktionsverhältnissen und das Erreichen vieler ihrer Ziele und Visionen zwei Generationen später sollte in dieser Erkenntnis bestärken.

Die Fetischisierung des Vorrangs der skizzierten Idee vor ihrer konsequenten Durcharbeitung ist eine der Hauptsünden, die sich die Kritik vorwerfen lassen muß. Ihre Aufgabe kann weder die des Vordenkens sein - das muß sie schon den Architekten selber überlassen -, noch sollte sie sich in der Rolle der paternalistischen Fördererin des Nachwuchses gefallen - zu sehr geförderter Nachwuchs entbehrt nicht selten des Rückgrats. Vielmehr lautet die Aufgabe der Kritik, einerseits eine sachliche Auseinandersetzung in der Fach- welt zu führen und anderer-seits die gewonnene Erkenntnis einem architekturinteressierten Publikum zu vermitteln.

Hier gilt es noch einem Manko abzuhelfen: Jede Generation von Architekten muß sich eine eigene Haltung und eine dazu passende Sprache erarbeiten. Eine eigene Stimme und die Fähigkeit zur kritischen Diskussion können aber nur der jeweiligen Generation, die über den gleichen Erfahrungshintergrund ver- fügt, erwachsen. Meist muß der Anspruch auch gegen die Exponenten der vorangegangenen Ge- neration durchgesetzt werden.

Dieser Vorgang scheint unabdingbar zur Schärfung des eigenen Profils. Denn nicht den Alten mit ihren Werken müssen sie gefällig sein, geht es doch darum, sich als Generation von Architekten und Kritikern neu zu positionieren.

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