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Provozierend geniales Chaos
Neue Zürcher Zeitung

Das neuste Kultbuch des Architekturgurus Rem Koolhaas

26. Februar 2004 - Roman Hollenstein
Er ist wieder einmal allen weit voraus: Während trendbewusste Baukünstler und Designer verzweifelt das monumentale Theorie-Kult-Bilderbuch «SMLXL» zu überbieten suchen, wirft der mit 59 Jahren immer noch jugendlich-unkonventionelle Rem Koolhaas unter dem Titel «Content» schon wieder eine neue Architekturbibel auf den Markt - diesmal im etwas fett geratenen Pocketformat von billigen Lifestyle-Magazinen. Auf dem schrillen Cover des von Simon Brown und Jon Link mit einer provozierenden Collage camouflierten Theoriewerks treffen sich George W. Bush als Exorzist mit Freedom-Narrenkappe, Saddam Hussein als geschminkter Rambo, Kim Jong Il als Terminator und Joschka Fischer als grüner Flaschengeist vor dem von Koolhaas projektierten Pekinger CCTV-Gebäude zur unheiligen Sacra Conversazione. Gleichzeitig verspricht das «Magazin» eine Titelstory über «pervertierte Architektur», kündigt jedoch auch Beiträge über «Slum-Soziologie», «mörderische Ingenieurskunst», «paranoide Technologie», «Big-Brother- Wolkenkratzer» und «Al-Kaida-Fetisch» an. Doch so schlimm, wie der Umschlag droht, kommt es im Innern des Wälzers nicht.


Architektonisch-politischer Diskurs

Immerhin aber wird man von grellen Landkarten, bunten Grafiken und flirrenden Bildern in eine auf den ersten Blick schwindelerregend aggressive Welt gezerrt, in der Architektur zur blossen Dienerin der Macht degradiert zu werden scheint. Wenn dann noch Eyal Weizmann - ausgehend von einer zusammen mit Rafi Segal konzipierten Wanderausstellung - aufzeigt, wie eng Stadtplanung und Kriegsführung etwa im israelisch-palästinensischen Raum verknüpft sind, wundert man sich nicht, dass die in ihrem Tun und ihrem Ethos zwischen «Right Wing Think Tanks» und «Left Wing Action Tanks» taumelnden Architekten Lebensberatung nötig haben, um ihr fragiles Ego wieder aufzumöbeln. Danach werden ihnen ein «Re-Learning from Las Vegas» als frohe Botschaft und «Sex and the City» zur metropolitanen Entspannung angeboten, wohl um sie fit zu machen für die Hölle von «Lagos Life». Nicht anders als in echten Magazinen sind zwischen solch schwere Themen Reklamen eingestreut: bald redaktionell verkappt, wenn es um das Engagement von Koolhaas und seinem OMA-Team für «Prada-yada» geht, bald ganz unverblümt, wenn die orientalisch gekleidete Zürcher Architektin Jasmin Grego verführerisch à la Blade Runner mit dem Gesäusel: «Ein gutes Interior lässt Menschen gut aussehen», für «Architectural Digest» wirbt.

Schön verpackt in diesen bizarren architektonisch-politischen Diskurs, werden die Bauten und Projekte von Koolhaas und OMA gleich dreifach vorgestellt: in einem chronologischen Abriss, einem Miniatur-Werkverzeichnis sowie in Einzelpräsentationen. Hier geht Koolhaas geographisch vor und verortet jede Stätte seines Tuns (nicht immer ganz korrekt) im globalen Koordinatensystem. Auf der geistigen Architekturwanderung von West nach Ost stellt der «Weltbaukünstler» nach seiner Bibliothek in Seattle und den im vergangenen Jahr vollendeten «Mies-takes»-Verbesserungen auf dem Campus des IIT in Chicago die niederländische Botschaft in Berlin vor (deren Einweihung jüngst Anlass war zu einer zwischen Baustelle und Studentenatelier oszillierenden Koolhaas-OMA-Schau, die ab Ende März in erweitertem Kontext in seiner Heimatstadt Rotterdam gastieren wird). Danach träumt der Meister von östlicher Grösse und erläutert seine als futuristische Cities in the Sky inszenierten Entwürfe für ein Hyperbuilding in Bangkok, die Togok Towers in Seoul und den Sitz von China Central Television (CCTV) in Peking. Obwohl Koolhaas um die sicherheitstechnischen, ökologischen und sozialen Probleme der Hochhausarchitektur weiss, setzt er weiterhin auf Wolkenkratzer - aber nicht auf irgendwelche, sondern auf verwegene Himmelsstädte wie aus Science-Fiction-Filmen, welche die Erde nur noch mit Stelzen berühren.

Wie global vernetzt das Bauen heute ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Koolhaas und viele seiner Kollegen vom «Go East» schwärmen, zumal da in Europa immer mehr Rekurse und in den USA immer ungehemmteres Profitstreben die Architektur zu banalisieren drohen. Dabei stört es sie offensichtlich wenig, dass ihre Kreationen an den pazifischen Küsten Asiens bald verwässert, bald zur Verherrlichung politischer Systeme missbraucht werden. Dies gilt nicht zuletzt für China. Doch gerade dieses Land, das nun alles noch schneller und noch grösser bauen will, zieht Koolhaas magisch an. Sein Traum von einer letztlich auf Kosten von Detail, Stimmung und Inhalt gehenden Beschleunigung führte etwa dazu, dass er und OMA sich beim Wettbewerb für das demnächst vollendete Konzerthaus in Porto die Aufgabe stellten: «How to turn a Dutch house into a Portuguese concert hall in under 2 weeks.»


Irritierend-inspirierendes Machwerk

Ein Hauptproblem der Baukunst sieht Koolhaas darin, dass in unserer schnelllebigen Welt Projekte bei ihrer Fertigstellung meist schon veraltet sind. Erst wenn die Architektur, diese «krude Mischung aus uraltem Wissen und zeitgenössischer Praxis», vom Zwang zu bauen befreit wäre, könnte sie - laut Koolhaas - zu einer Disziplin werden, die befähigt wäre, kritisch über alles nachzudenken. Deshalb hat er als Spiegelbild seines praktisch tätigen Büros OMA das AMO- Team zusammengestellt, das in die freien Sphären des Denkens abheben darf. Von dort erhält er jenen Input, der es ihm erlaubt, die Tätigkeit der zwischen dem Diktat der Mode und den Ansprüchen der Investoren schwankenden Architekten immer neu zu hinterfragen. Die Komplexität des Planens und Bauens in einer immer stärker auf soziale und ökologische Verträglichkeit angewiesenen Welt veranschaulichen die 544 Seiten dieser Publikation in einer solchen Dichte, dass man nur staunen kann, wie der vielbeschäftigte Koolhaas es schafft, das von ihm und AMO zusammengetragene Material geistig zu verdauen und darüber hinaus noch in eine publizierbare, wenn auch provozierend chaotische Form zu bringen. Doch dann erinnert man sich daran, dass Koolhaas, der seine Karriere ja als Journalist und Filmer begann, spätestens seit «Delirious New York» ein Faktensammler ist. Das spiegeln auch seine Bauten - allen voran die Kunsthal in Rotterdam, in der er tausend Anregungen zu einem wie immer nicht ganz kohärenten, aber irritierend-inspirierenden Bauwerk vereinigt hat.

Um ein ähnlich anregendes Machwerk handelt es sich bei «Content», das in seiner verwirrenden Gestaltung viel Fun, Anregung und Information bietet, aber auch eine halluzinatorische Fülle von Assoziationen evoziert, aus der sich jeder seine eigene Architekturtheorie destillieren kann. Die jeweiligen Erkenntnisse - und damit rechnet Koolhaas wohl insgeheim - dürften von Atlanta bis Zürich ganz unterschiedlich ausfallen. Damit sind die Zeiten, als Le Corbusiers weisse Kathedralen der Avantgarde noch Richtschnur waren, endgültig vorbei. In seiner theoretischen Uferlosigkeit öffnet «Content» die Schleusen für Junk-Architektur aus Spiegelglas ebenso wie für blubbernde Blob-Monster oder nostalgische Neugotik. Auch wenn der architektonische Vordenker Koolhaas sich seinen Projekten weiterhin mit aufwendigen Analysen nähert, will er mit «Content» wohl eher heterogen-selbstverliebte Bauorgien auslösen als Wege zu einer besseren Architektur weisen - und dies alles einmal mehr in höchst kultverdächtiger Form.


[Content. Hrsg. Rem Koolhaas und Brendan McGetrick (englischsprachig). Verlag Taschen, Köln 2004. 544 S., Fr. 19.80.]

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