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„Zerbrochene Utopien“
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Ganz anders sieht die Auseinandersetzung mit dem Biennale-Thema „Less Aesthetics. More Ethics“ im russischen Pavillon aus: Dort geht es um das Scheitern der Utopien.

13. Juli 2000 - Roland Schöny
Jede Moral kann in ihr Gegenteil umschlagen. Jeder Versuch, eklatante Mängel im Alltagsleben durch breit angelegte Lösungsmodelle zu beheben, kann in neue unerwartete Problemzonen führen. Dafür ist das Umkippen anfangs positiv verstandener sozialistischer Ideen in Diktatur und Mangelwirtschaft in der Sowjetunion wahrscheinlich das herausragendste Beispiel im 20. Jahrhundert.


Abschreckende Beispiele

[ Foto aus dem Zyklus Melancholie von Ilya Utkin / ©Bild: Katalog ]

So erscheint es kaum verwunderlich, wenn man sich nun im russischen Pavillon in Venedig von neuerlichen Ansätzen, die urbane Welt in den Griff zu bekommen, distanziert hat. Statt dessen hat der russische Biennale-Kommissar Gregory Revzin das von Massimiliano Fuksas vorgegebene Motto in eine für den Osten gültige Version umgewandelt: „The Ruins Of Paradise“ - „Die Ruinen des Paradieses“.


Bild und Bau

Auf Fotografien und in einer Installation werden Ruinenlandschaften und verfallene, verwahrloste Bauwerke gezeigt. „Wir müssen das Ergebnis utopischer Ideen darstellen“, erklärt Gregory Revzin. 70 Jahre lang habe man in der Sowjetunion an Utopien gebaut „und das endete mit dem Zerfall“.

[Abb.: Ilya Utkin / ©Bild: Katalog ]

Um seine These zu verdeutlichen, hat der russische Biennale-Kommissar zwei der führenden visionären Architekten Russlands eingeladen. Mikail Filippov und Ilia Utkin. Der Titel einer Fotoserie von Ilia Utkin lautet „Melancholia“. Utkin möchte das verfaulte Fleisch der Architektur offenlegen, „die Wunden der Geschichte“, wie es im Katalogtext wörtlich heißt.


Wunden der Geschichte

Die Aufnahmen verfallener Bauten in Schwarz/Weiß werden so einfach als möglich präsentiert - ganz unprätentiös und einfach gerahmt. Es scheint so, als würden die Bilder Ausgrabungen längst vergangener Zeiten zeigen; Spuren einer untergegangenen Welt.

Ilia Utkins Fotografien seien eine Metapher für die Geschichte Russlands und der Sowjetunion, meint Gregory Revzin. Dass in diesen Bildern Untergang und Verfall ästhetisiert dargestellt werden, sei plausibel, denn, „um es polemisch zu sagen: in der Architektur geht es um Ästhetik“.

Damit überrascht der russische Kommissär mit einer unerwarteten Kritik am Biennale-Motto, wenn er meint, Ziel der Architektur sei es Meisterwerke zu schaffen. Soziale Programme zu entwickeln sei eine Frage der Politik und nicht Aufgabe des Architekten.


Gegenveranstaltung

So bildet der russische Pavillon einen deutlichen Kontrapunkt zu den übrigen Länderpräsentationen, wo sehr oft avancierte Architektur-Entwürfe der Moderne in den Vordergrund gerückt oder explizit soziale Probleme wie etwa der Umgang mit Migranten angesprochen werden.

Als Ergänzung zu Ilia Utkins Fotoausstellung hat der Architekt Michail Filippov eine Installation konzipiert. Säulenfragmente eines klassisch anmutenden Bauwerks weisen da in ein riesiges Kunstwerk - in das Bild von einer paradiesische Landschaft. Das macht die Präsentation im russischen Pavillon zu einer komplexen dialektischen Konstruktion mit visuellen Mitteln.

[ Abb. ]

Während einerseits vom permanenten Scheitern des Utopischen erzählt wird, zelebriert man hier verfallende und untergehende Welten als ästhtetisches Ereignis, um andernorts wieder von neuem Atem zu holen und zu sagen: Das Utopische kann nur als genialer Entwurf oder vielleicht nur als Kunstwerk Bestand haben.

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