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Sehnsucht nach dem Süden
Neue Zürcher Zeitung

Aspekte italianisierender Architektur in St. Petersburg

2. März 2004 - Roman Hollenstein
Ein wichtiges, wenn auch ausserhalb der italienischsprachigen Welt nur wenig beachtetes Ereignis des Veranstaltungsjahres 2003 war die Luganeser Architekturausstellung über die «Maestri italiani e ticinesi nella Russia neoclassica» (NZZ 10. 10. 03). Mit ein Grund für die geringe Resonanz war zweifellos die Tatsache, dass der Katalog zu dieser anspruchsvollen Schau, die nun noch bis zum 18. April in der Eremitage von St. Petersburg gastiert, erst im Dezember erschienen ist. Schon jetzt aber darf diese zweibändige Begleitpublikation dank den grundlegenden Essays von Forschern aus Russland, Italien und dem Tessin sowie dem reichen Abbildungsmaterial als ein Standardwerk zur Architektur des Klassizismus in Russland gelten. Der monumentale Doppelband erlaubt es einem nicht nur, die Schau nochmals Revue passieren zu lassen: Er ermöglicht auch die nötige Vertiefung der in der Ausstellung vor allem visuell vermittelten Inhalte. Obwohl die Spannweite der Katalogbeiträge vom Antikenkult unter Katharina II. und Alexander I. bis hin zu den grossen in St. Petersburg tätigen Architekten und Dekorateuren reicht, kann diese sprudelnde Informationsquelle zur italianisierenden Architektur um 1800 im Zarenreich bei weitem nicht alle Aspekte erschöpfend behandeln. So kommen beispielsweise von dem aus Agno stammenden Tessiner Luigi Rusca nur der palastartige Kasernenbau der Gardekavallerie sowie die unter Alexander I. neu inszenierten Säulenhallen des Taurischen Palais zur Sprache.

Damit lässt die Publikation der weiterführenden Forschung noch viel Spielraum, wie eine von Konstantin Malinowski verfasste Monographie über die während dreier Generationen an der Newa aktive Architektenfamilie Rusca beweist. Im Mittelpunkt der Studie steht der lange Zeit zu Unrecht unterschätzte Klassizist Luigi Rusca (1762-1822), von dem neben den erwähnten Bauten höchstens noch zwei andere Kasernen sowie der tempelartige Rusca-Portikus am Newski Prospekt bekannt waren. Selbst Fachleute hatten bis anhin kaum eine Ahnung davon, dass auch Werke wie das Gartenpalais Mjatlew, die Stadtpaläste Kussow und Iljin, der Palast der vier Kolonnaden, der Sitz des Jesuitenordens, der Bau der Theologischen Fakultät, die Kasaner Brücke sowie bedeutende Interieurs und Möbelentwürfe von Rusca stammten. Mit Malinowskis Arbeit ist zur Aufarbeitung dieses Œuvre, von dem lange nur ein 1810 von Rusca selbst herausgegebenes Stichwerk zeugte, ein wichtiger Schritt getan. Es wäre jedoch zu wünschen, dass früher oder später ein eigentliches Werkverzeichnis nachgereicht werden könnte.


[Konstantin Malinowski: La famiglia Rusca a San Pietroburgo e nei dintorni. Ital. und russ. Ente turistico del Malcantone, Caslano 2003. 240 S., Fr. 20.- (info@malcantone.ch). - Dal mito al progetto. La cultura architettonica dei maestri italiani e ticinesi nella Russia neoclassica. Hrsg. Nicola Navone und Letizia Tedeschi. Archivio del Moderno, Mendrisio 2003. 2 Bde., 453 u. 462 S., Fr. 90.-. - Weiter liegt eine von Präsenz Schweiz herausgegebene CD-ROM (www.stpetersburg2003.ch) vor.]

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