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Architektur und Autonomie
Architektur und Autonomie, Foto: Johannes Fiedler
Architektur und Autonomie, Foto: Johannes Fiedler
Architektur und Autonomie
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„Austrian housing project“: Unter diesem Titel baute Johannes Fiedler 300 Wohnungen für Beamte der palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank und im Gazastreifen - Österreichs materieller Beitrag zur Förderung des Friedensprozesses.

2. März 2002 - Karin Tschavgova
Wohnen gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Nach Katastrophen, zu deren schlimmsten zweifelsohne Kriege zählen, ist daher die Schaffung von Wohnraum eine der vordringlichsten Maßnahmen. Es zählt zur moralischen Verpflichtung jener Staaten, die vom Krieg verschont bleiben, Friedenshilfe in Form von materieller Unterstützung für den Wiederaufbau von Wohnraum zu leisten.

In Wien erinnert die Per-Albin-Hansson Siedlung West an diese gute Tradition. Mehr als 1000 Wohnungen wurden von 1947 bis 1951 nicht nur mit der Schwedenhilfe errichtet und als Dank nach dem damaligen schwedischen Ministerpräsidenten benannt, sie orientierten sich auch an schwedischen Konzepten.

Nach dem Osloer Friedensabkommen von 1993 hat die österreichische Bundesregierung - wie zahlreiche andere westliche Organisationen und Staaten - sich verpflichtet, den arabisch-israelischen Friedensprozeß und die Etablierung einer autonomen palästinensischen Verwaltung materiell zu unterstützen. 100 Millionen Schilling (7,27 Millionen Euro) wurden für die Errichtung von angemessenen Wohnungen für Verwaltungsbeamte, die Arafat aus dem Exil zurückholte, bereitgestellt.

Mit dieser Summe konnten an zwei Orten insgesamt 300 Wohnungen zu einem Quadratmeterpreis von 233 Euro (3206 Schilling) gebaut werden, was maximal einem Fünftel der Baukosten hierzulande entspricht. Die als Anzahlung für die Eigentumswohnungen geleisteten Gelder reichten für vierzig weitere Wohnungen.

Die Wahl der Bauplätze für das Vorhaben - ein Erweiterungsgebiet westlich der Stadt Khan Younis im Gazastreifen und eine Parzelle dicht an der Zonengrenze in der Westbank - wurde von den Palästinensern mit politischem Kalkül getroffen. Grenzbereiche der im Rahmen der Oslo-Verträge von den Israelis rückerstatteten Flächen möchte man so rasch wie möglich bebauen, um eine weitere Expansion jüdischer Siedlungen, die heute das schmale Küstenland zwischen Gaza und Khan Younis in zwei Teile zerschneiden, zu verhindern.

Die Zahl der benötigten Wohnungen wird vom palästinensischen Wohnbauministerium mit 200.000 angegeben, allein im Flüchtlingslager Shaty leben immer noch 70.000 Menschen dicht gedrängt in behelfsmäßigen Unterkünften.

Die Ausrichtung des sozialen Wohnbaus zielt, ähnlich dem Nachkriegswohnbau in Österreich, vorerst lediglich darauf ab, die ärgste Wohnungsnot auf schnelle und rationelle Weise zu lindern. Die meisten realisierten Bauten, auch jene, die mit europäischer und amerikanischer Unterstützung entstanden, verwenden trotz äußerster Bauökonomie orientalische Bogenformen als Zierat, was unserem Auge wie jede ohne Zusammenhang verwendete Applikation sinnentleert und hohl, dem palästinensischen Wohnungswerber jedoch prestigeverheißend scheint.

Der österreichische Wohnbau in Khan Younis wurde wie jener in Nablus vom Grazer Architekten Johannes Fiedler geplant und begleitend kontrolliert. Der Architekt war 1983 bei einem Hilfsprojekt im Lager Schatila im Libanon erstmals mit dem Schicksal palästinensischer Flüchtlinge konfrontiert. In Khan Younis, wo nach eng umrissenen Vorgaben der palästinensischen Wohnbaubehörde geplant werden mußte, gelang es ihm - vielleicht aufgrund jahrelanger Erfahrung in internationalen Beratungsprojekten und dem dabei erworbenem Sensorium -, den minimalen Spielraum zwischen vorgegebener Gebäude- und Wohnungstypologie maximal zu nützen.

Als entscheidende Maßnahme ersetzte er die vorgesehene, allzusehr nach innen gerichtete, abschottende Blockrandbebauung durch eine offene Struktur von vierseitig orientierten Blöcken, einer Bebauungsform, die nicht nur an allen Rändern erweiterbar ist, sondern die auch der traditionellen arabischen Bebauung des dichten flächigen Siedlungsteppichs nahekommt.

Zehn Blöcke sind so gestellt, daß deren vier jeweils einen geschützten Innenhof ergeben. Tagsüber von den Kindern als Spielplatz erobert, wird er abends zum Versammlungsort, um gemeinsam fernzusehen. An den Rändern wird jeder der Plätze durchkreuzt von schmalen Gassenachsen, die in kleinere, zum Siedlungsrand hin offene, halbprivate Plätze münden. Laufen diese durchlässigen Bereiche derzeit auch noch aus in staubig ödes Dünenland, das nur vereinzelt von elen-den grauen Hausagglomerationen besetzt wird, so war bei der Planung schon abzusehen, daß das gesamte Gebiet in wenigen Jahren urbanisiert sein wird, bebaut von wohlhabenden Exilpalästinensern, die ihren gesamten Familienclan versorgen, und auch von jenen Spekulanten, die in der Goldgräberstimmung nach dem Oslo-Abkommen unübersehbar auftraten. Die in den außenliegenden Erdgeschoßzonen vorgesehenen Läden hätten dann zur Belebung und Normalisierung der Wohnsituation beitragen.

Wenn . . . ja, wenn die Spirale der Gewalt - israelische Repression, palästinensische Attentate, israelische Bombardements - nicht den Frieden in weite Ferne rücken ließe. Das „Austrian housing project“ wurde von den Israelis im Mai 2001 beschossen, was dazu führte, daß die Wohnungen an der „Frontlinie“ evakuiert werden mußten und die Bewohner die oberen der fünf Geschoße meiden.

Als Anregung für scheinbar nur rudimentär vorhandene städtebauliche Konzepte eignet sich das „Austrian housing project“ allemal. In seiner einfachen, fast spartanisch anmutenden Bauweise kann es nicht als Prestigeprojekt dienen und reguliert damit die Zielgruppe - die „kleineren“ Angehörigen der Autonomiebehörde - mit architektonischen Mitteln.

Die Wohnungen, für die günstige Kredite vergeben wurden, sind auf maximal vier Räume mit knapp 100 Quadratmetern beschränkt. Je vier werden auf einer Etage erschlossen.

Ihre Grundrisse entsprechen durchaus europäischen Standards. Sie verdeutlichen den Modernisierungsschub in der
islamischen Gesellschaft, denn sie spiegeln die Bedürfnisse junger muslimischer Kleinfamilien wider, die der traditionellen Hofhausform der Großfamilie mit ihrem steten Mangel an Privatheit und dem Verbannen der Frauen in die hinteren Räume nichts mehr abgewinnen können.

Kleine Abweichungen fallen dennoch auf. So fehlt den Wohnungen der Vorraum, der Gast tritt unmittelbar in den Wohn-/ Empfangsraum ein, von dem aus auch die Toilette zugänglich ist. Ungewohnt für westliche Vorstellungen, wird diese Anordnung jedoch verständlich, wenn man die spezifische Bedeutung von Privatheit im islamischen Alltag bedenkt. Dem Gast sind die „inneren“ Bereiche der Wohnung verwehrt.

Der für diese Klimazone unumgängliche Sonnenschutz wird einerseits durch ein Rückspringen der Verglasungsebene hinter die Fassade erzeugt und andererseits durch ein Gitterwerk, das die Fassade mit den Schlafräumen ganzflächig überzieht.

Solche „muxarabis“ aus Holz oder Ziegeln sind genuine Elemente des Orients, doch man trifft auf sie auch in den Planungen Le Corbusiers und anderer Architekten der Moderne. Fiedler widmet sich seit langem der Erforschung der Auswirkungen von Globalisierung auf die Stadtentwicklung und zeigt Zusammenhänge zwischen Urbanität und Sicherheit auf.

Am Beispiel von Gaza wird seine Theorie, daß Verdichtung immer durch eine Form der Beschränkung - Bedrohung, Mangel an Ressourcen oder durch Verordnung - entsteht, deutlich. Die Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern wird als ein großes Gefängnis beschrieben, von den Israelis hermetisch abgeriegelt.

Ein wenig mehr an städtebaulichen Visionen würde man der palästinensischen Autonomiebehörde für die Besiedlung ihrer ohnehin sehr beschränkten Territorien wünschen. Aber vielleicht ist dieser Gedanke, geprägt von intellektueller westlicher Saturiertheit, obszön angesichts einer Art permanenten Kriegszustands. Und vielleicht bedeuteten Ratschläge von außen eine Form von Kolonisation und wären daher zynisch angesichts der jahrzehntelangen Geschichte von Vertreibung und Besetzung des Landes.

Außerdem gilt noch immer der Brechtsche Satz aus der „Dreigroschenoper“: „Zuerst kommt das Fressen und dann kommt die Moral.“ Sinngemäß ließe er sich abwandeln und auf die aktuelle palästinensische Wohnbautätigkeit übertragen: Zuerst braucht der Mensch ein Dach über dem Kopf, dann erst kann er sich den Luxus von Wohnbauforschung leisten.

Unter den Folgen des Krieges werden die Menschen in diesem Land, Erwachsene wie Kinder, noch lange leiden. Experimenteller Wohnbau hat keine Priorität, ist derzeit weder Thema noch Sehnsucht.

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