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Archaisch und innovativ
Neue Zürcher Zeitung

Stampflehmbauten von Martin Rauch

1. März 2002 - Jürgen Tietz
Lehm gilt als ein archaischer Baustoff. Schliesslich begleitet er die Menschen, seit sie begonnen haben, Häuser zu bauen. In der Architektur der Gegenwart führt Lehm allerdings nur ein Schattendasein - ganz im Gegensatz zum Holzbau etwa, der in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Renaissance erlebt hat. Dabei erfüllt Lehm wie kein anderer Baustoff die Anforderungen eines nachhaltigen Bauens: Meistens vor Ort verfügbar und damit ressourcenschonend zu gewinnen, ist er gut zu verarbeiten und von hoher Dämmwirkung. Doch ungebrannter Lehm ist wasserlöslich. Das macht ihn zwar vollständig rezyklierbar, zugleich aber auch als Baustoff anfechtbar. Die Angst vor der Unbeständigkeit eines Lehmbaus verhindert einen häufigeren Einsatz dieses Baumaterials. Dabei kann Lehm - auch ohne die Zugabe von Bindemitteln - dauerhaft verbaut werden. Das zeigt der Blick auf alte, in Pisé-Technik errichtete Bauten in Frankreich.

Dass Lehm dennoch in der modernen Architektur eine Rolle spielt, verdankt er vor allem Martin Rauch und dessen Häusern aus Stampflehm. Unter dem Titel «Rammed Earth. Lehm und Architektur» gibt jetzt ein bei Birkhäuser erschienenes Buch einen Überblick über Rauchs Projekte. Der im Vorarlberger Schlins geborene Rauch kam über die Keramik zur Architektur mit Stampflehm. Sein Bauen mit Lehm erweist sich als archaisch und innovativ zugleich. So experimentiert Rauch immer wieder mit den Zusatzstoffen bei Stampflehm. Dabei faszinieren Rauchs ausgeführte Lehmbauten durch die Unmittelbarkeit des Materials: etwa das eigene Atelierhaus in Schlins (1990-94) oder die gemeinsam mit den Architekten Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth verwirklichte Versöhnungskapelle in Berlin (1990-2000). Die Oberfläche der Lehmwände besitzt eine einzigartige Textur, eine raue Schönheit aus Farben und Strukturen. Wer vor einer solchen Lehmwand steht, der wird kaum den Impuls unterdrücken können, mit der Hand über die Wandfläche zu streichen, die Unebenheiten zu spüren und im Streiflicht den Strukturen der Wand zu folgen. Rauchs Lehmwände sind im Grenzbereich zwischen Architektur und Kunst angesiedelt. Sie sind der Landart verwandt, wie im Fall der beiden ineinander greifenden Lehmmauern für den Friedhof im schweizerischen Wil (1997/98). Da verwundert es nicht, dass renommierte Landschaftsarchitekten wie Kienast, Vogt und Partner aus Zürich oder der Künstler Olafur Eliasson bereits mehrfach mit Rauch zusammengearbeitet haben.


[ Otto Kapfinger und Martin Rauch: Rammed Earth. Lehm und Architektur. Birkhäuser-Verlag, Basel 2002. 160 S., Fr. 88.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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