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Atmende Architektur
Neue Zürcher Zeitung

Ein Sammelband über Bruno Taut

6. März 2002 - Klaus Englert
Im Jahre 1924 erschien in Magdeburg eine Ansichtskarte mit belebtem Marktplatz, zackig ornamentierten Warenhäusern und farbig angemaltem Rathaus. Der «Gruss vom bunten Magdeburg» zeigt eine Stadt im Fluss der Veränderung. Die wohlwollende Karikatur zielte auf den künstlerischen Reformeifer, den der neue Stadtbaurat Bruno Taut bei seiner Aktion «Farbiges Magdeburg» entwickelte. Der ungebremste Aufbruchswille, den Taut seit dem Amtsantritt zusammen mit seinem Mitarbeiter Carl Krayl entfesselte, machte die Farbexperimente der zuvor eher grauen Stadt über die Landesgrenzen hinaus bekannt: Das Renaissance-Rathaus erhielt einen roten Farbanstrich, die Arbeitersiedlung «Reform» wurde ausgebaut und in ein buntes Kleid gehüllt, Hausfassaden wurden in Kunstwerke verwandelt, Krayls Pavillon der «Mitteldeutschen Ausstellung» zeigte sich auf der Höhe des expressionistischen Zeitgeistes, und sogar die Strassenbahn erschien, wie Ilja Ehrenburg fasziniert notierte, «prächtig gemustert wie ein Drache».

Im vorliegenden Taut-Sammelband beschreibt Regina Prinz die von Taut verordnete Verjüngungskur als «bewusstseinsweckende» Erziehungsmassnahme. Die Kampagne war allerdings nur ein kurzes Intermezzo, denn nach knapp drei Jahren fühlte sich der avantgardistische Stadtbaurat zu wichtigeren Aufgaben berufen. In der Reichshauptstadt widmete er sich den drängenden Wohnungsproblemen, und binnen kurzer Zeit avancierte er, wie Winfried Nerdinger schreibt, zum «bedeutendsten deutschen Wohnungsbauer im 20. Jahrhundert». Allein in Berlin errichtete Taut mehr als 10 000 Wohnungen. Dabei folgte er weniger dem rationalistischen Credo eines Mart Stam oder Ernst May als vielmehr dem Leitbild einer organischen Architektur: Die asymmetrischen Reihen des Siedlungsbaus sollten die fliessenden Bewegungen eines «atmenden Wesens» zum Ausdruck bringen.

Trotz seinem unbestrittenen Einfluss auf die Architektur der zwanziger Jahre geriet Bruno Taut in Vergessenheit. Erst 1960 machte ihn Ulrich Conrads, wenngleich als Vertreter der «phantastischen Architektur», im Westen wieder bekannt, während ihn Kurt Junghanns in der DDR als Vorläufer des sozialistischen Massenwohnungsbaus vereinnahmte. In Ostdeutschland wurde das Erbe Tauts erst nach der «Wende» von 1989 wieder lebendig: Magdeburg besann sich seines einstigen revolutionären Stadtbaurats und rekonstruierte den Farbanstrich seiner zu «grauen Steinkästen» (Taut) verkommenen Häuser. In dem Sammelband, der durch hervorragende Fotos besticht, sind sie in ihrem neu-alten Kleid zu bewundern.


[Bruno Taut. 1880-1938. Architekt zwischen Tradition und Avantgarde. Hrsg. Winfried Nerdinger. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001. 440 S., Fr 220.-.]

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