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Neue Trends in Russlands Architektur
Neue Zürcher Zeitung

Eine Ausstellung im RIBA in London

19. März 2002 - Ursula Seibold-Bultmann
Was bedeuten die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die Russland während der letzten zehn Jahre erlebt hat, für das dortige Bauen? Vor allem die neue Investorenarchitektur in Moskau prägt das Bild, das man sich im Westen gemeinhin von der jetzigen Situation macht. Eine kleine Überblicksschau im Londoner Royal Institute of British Architects (RIBA) bietet genauere Informationen.

Vorgestellt werden die Arbeiten von zehn russischen Architekturbüros, die 2001 bei der jährlichen Architektur- und Designausstellung «Arch Moskau» ausgewählt wurden. Hinzu kommen Projekte aus dem Moskauer Büro des Londoner Architekten Will Alsop sowie eine Präsentation der wohl unfreiwillig figural wirkenden neuen britischen Botschaft in Moskau (1993 bis 2000) von Ahrends Burton & Koralek (mit Modell). Weitere Ausblicke richten sich auf die postmoderne Umgestaltung von Nischni Nowgorod (früher Gorki), wo der Stadtbaumeister Alexandr Charitonow von 1993 bis 1999 auf flamboyante Weise schul- und stilbildend wirkte, und auf den durch Fehlrenovierung fast ebenso sehr wie durch weiteren Verfall bedrohten heutigen Zustand von Schlüsselbauten der russischen Moderne, darunter Moissej Ginsburgs Narkomfin-Block (1928-30) in Moskau.

Das auf Schautafeln präsentierte Foto- und Planmaterial verdeutlicht vor allem eines: stilistische Heterogenität. Michail Filippow erträumt in poetischen Zeichnungen ein neues Moskau in den Formen der italienischen Renaissance, während anderswo - teilweise mit Anklängen ans westliche Hightech - die Tradition sowjetischer Ingenieursarchitektur weitergeführt wird. Vergleichsweise markant geschieht dies etwa durch das Architekturbüro Timur Baschkajew und seine aus dem staatlichen Institut Aeroprojekt hervorgegangenen Mitarbeiter, die unter anderem Villen in der Form pilzartiger Raumkapseln entwerfen. Manche Bauten, die dem fremden Betrachter zunächst wenig aussagekräftig scheinen, ergeben einen Sinn, wenn man den Präsentationstext des Architekturstudios Lyslow beim Wort nimmt und sie als Versuche versteht, das umgebende Lebenschaos auf realistische Weise einzudämmen.

Gleichzeitig allerdings fällt einem ein Gedicht ein, das El Lissitzky 1926 in der Zeitschrift der Architektengruppe Asnowa veröffentlichte und das mit den Zeilen endet: «Der Mensch ist das Mass des Schneiders. / Aber Architektur messt an Architektur.» Der Weg zu solcher Höhe wird im Katalog gewiesen, wo gerade auch von russischer Seite nach konzeptueller Klarheit und künstlerischem Mut gerufen wird. Wie die Konstruktivisten und Formalisten in den zwanziger Jahren gezeigt haben, ist beides in Russland in visionärem Masse möglich. Deshalb verfolgt man mit Spannung, wohin die jetzige Entwicklung geht.


[Die Ausstellung im RIBA am Portland Place 66 in London dauert bis zum 6. April. Katalog: Time for Change. Recent Developments in Russian Architecture (englisch-russisch). RIBA, London 2002. 35 S. (mit Abb. und Kontaktadressen), £ 5.-. Die siebte «Arch Moskau» findet vom 14. bis zum 18. Mai statt; Informationen unter http://www.expopark.ru.]

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