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Konstruktivistisches Vermächtnis
Neue Zürcher Zeitung

Moskauer Schau zum 100. Geburtstag von Iwan Leonidow

20. März 2002 - Philipp Meuser
Der russische Konstruktivismus, der Mitte der dreissiger Jahre in politische Ungnade fiel und in der Folge vom stalinistischen Neoklassizismus abgelöst wurde, erlebt seit dem Zerfall der Sowjetunion auch in Moskau eine Renaissance. Diese Rückbesinnung hängt nicht nur mit der Suche der neuen Architektengeneration nach historischen Wurzeln zusammen. Auch durch die Popularisierung der konstruktivistischen Baukunst durch internationale Fürsprecher wie Rem Koolhaas oder Zaha Hadid ist das baukünstlerische Werk von Melnikow, Ginsburg und Kollegen in die breite Öffentlichkeit gelangt. Deshalb war es mehr als eine gut inszenierte PR-Strategie, dass Koolhaas jüngst persönlich die Moskauer Ausstellung «100 Jahre Leonidow» eröffnete. Dabei bekannte sich der niederländische Stararchitekt als Verehrer Iwan Leonidows, dessen Werk sich bis auf eine Treppenanlage in Kislowodsk lediglich in zeichnerischer Form begutachten lässt. Seine Begeisterung für Leonidow, so Koolhaas, habe ihn bereits 1969 nach Moskau geführt, wo er mit der Witwe zusammentraf und dabei zufällig unter dem Küchentisch eine bis dahin unbekannte Farbskizze zum Vorschein kam. Sie ist nun zusammen mit Modellen, Zeichnungen und Malereien im Schtschussew-Museum für Architektur in Moskau zu sehen, das mit 110 Mitarbeitern zu den weltweit grössten und ältesten Institutionen seiner Art gehört.

Zu den bekanntesten Arbeiten von Iwan Leonidow (1902-1959) zählen das Modell des Lenin- Instituts (1927) - eines nie realisierten Kugelbaus, der schon früh Leonidows Traum von der architektonischen Aufhebung der Schwerkraft veranschaulichte -, der Entwurf für einen pyramidenförmigen Kulturpalast auf dem Gelände des ehemaligen Simonow-Klosters (1930) in Moskau und die mannshohe Zeichnung eines Hochhauses am Roten Platz (1934). Das Besondere an der Ausstellung sind die zahlreichen Skizzen in Postkartenformat, die aus dem Familienarchiv stammen und bislang noch nie der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Sie spiegeln das Leben eines vermutlich schizophrenen Genies, das nach seiner kurzen Karriere am All-Unions-Institut für Kunst und Technik (Wchutein) nur noch als Mitarbeiter einer Modellwerkstatt eine Anstellung fand. Das Lehrinstitut, eine Art Kaderschmiede des Konstruktivismus, war 1931 geschlossen worden. Leonidow soll nie darüber hinweggekommen sein.

Ein Projekt, das Leonidow zeit seines Lebens verfolgte, war die «Stadt der Sonne». Planetenbahnen und Sonnenläufe bildeten hierbei Vorbilder für städtebauliche und architektonische Formen. Hohe Türme und kegelförmige Bauten weisen in den Entwürfen direkt zur Sonne, in der Leonidow den Quell des Lebens sah. Nun hat das Schtschussew-Museum angekündigt, die ausgestellten Arbeiten für eine Buchpublikation zur Verfügung zu stellen. Koolhaas, der um ein Vorwort gebeten wurde, meldete unverzüglich Interesse an einer noch aktiveren Mitarbeit an. Damit dürfte der russische Konstruktivismus endgültig Einzug in der globalen Liga der Koolhaas'schen Medienpräsenz halten.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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