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Wie­der le­ben ler­nen
Der Standard

Was braucht man zum Woh­nen? Das lernt man vor al­lem, wenn man vor­her nichts hat­te. Das „Neu­ner­haus“ in Wien bie­tet Ob­dach­lo­sen ein Zu­hau­se auf dem Weg in die Nor­mal­ität. Mit Ar­chi­tek­tur, die mehr ist als nur Norm.

4. Juli 2015 - Maik Novotny
Ich füh­le mich hier sehr gut auf­ge­ho­ben“, sagt Ernst S. und blickt aus sei­nem Fens­ter im drit­ten Stock in den Hof. Gut, er sei zwar ein Na­tur­mensch, des­we­gen ha­be er kurz ge­zö­gert vor dem Ein­zug im April. Viel Grün gibt es nicht auf der Eck­par­zel­le im drit­ten Be­zirk. Aber der Pra­ter ist nur we­ni­ge hun­dert Me­ter ent­fernt. Zum An­geln fährt er zum Wie­ner­berg­teich.

Ein Tisch, zwei Stüh­le, Bett, Re­gal, Kü­chen­zei­le, 25 Qua­drat­me­ter – ei­ne der 73 Woh­nun­gen im „Neu­ner­haus“, das En­de Ju­ni er­öff­net wur­de. Nicht lan­ge ist es her, da wohn­te der heu­te 58-Jäh­ri­ge ganz an­ders. Vier Jah­re lang auf ei­nem Dach­bo­den, im ei­si­gen Win­ter un­ter meh­re­ren De­cken, im Som­mer war es brü­tend heiß. Sei­ne Pa­pie­re wur­den ge­stoh­len, von ei­nem Über­fall trägt er noch ei­ne Nar­be. Heu­te hat er sein ei­ge­nes Reich hin­ter sei­ner ei­ge­nen Tür – im wohl­tem­pe­rier­ten Pass­iv­haus. „Es ist schön ru­hig hier.“

Zwei Stock­wer­ke über ihm sitzt Pe­ter E. auf sei­nem neu­en So­fa, er be­wohnt mit Freun­din und Hund ei­ne der Paar­woh­nun­gen im Neu­ner­haus. Auch er ge­nießt die Ru­he. Ei­ne Ver­gan­gen­heit aus Al­ko­hol, Ge­walt, Haft, Ob­dach­lo­sig­keit liegt hin­ter ihm. „Ich brau­che ei­ne Tür, die ich ab­schlie­ßen kann, ei­nen Raum für mich al­lei­ne. Die Tür ist fast noch wich­ti­ger als das Dach über dem Kopf.“ Für vie­le ehe­ma­li­ge Ob­dach­lo­se gilt: Das Woh­nen muss man erst wie­der ler­nen. Man­che schla­fen die er­sten Wo­chen auf dem Bal­kon, er­zählt Pe­ter E.

Der Ver­ein Neu­ner­haus be­treibt in Wien Wohn­hei­me für aku­te Fäl­le, für Über­gangs­woh­nen und das Pro­gramm „Hou­sing First“, in dem die ehe­mals Ob­dach­lo­sen selbst­stän­dig in der Stadt ver­teilt woh­nen. Das Neu­ner­haus in der Ha­gen­mül­ler­gas­se liegt pro­gram­ma­tisch da­zwi­schen. Hier wohnt man in der Re­gel für zwei Jah­re, ide­al­er­wei­se geht es da­nach in sta­bi­le­ren Ver­hält­nis­sen wei­ter. Am sel­ben Ort be­trieb man schon frü­her ein Wohn­heim, das sich bald als nicht mehr sa­nier­bar er­wies. Ge­mein­sam mit dem Bau­trä­ger WBV-GPA und ge­för­dert vom Fonds So­zia­les Wien mach­te man sich an die Neu­bau­pla­nung, vier Ar­chi­tek­tur­bü­ros wur­den ein­ge­la­den. Am 22. Ju­ni wur­de er­öff­net.

„Par­ti­zi­pa­ti­on war uns schon im­mer sehr wich­tig“, sagt Neu­ner­haus-Ge­schäfts­füh­rer Mar­kus Rei­ter im Stan­dard -Ge­spräch. „Des­we­gen ha­ben wir bei der Pla­nung das Wis­sen und die Wün­sche der Be­woh­ner und Mit­ar­bei­ter mit ein­be­zo­gen. Uns ging es da­rum, ei­ne Ge­schich­te zu fin­den, die er­zählt, wie in die­sem Haus das Le­ben und wie die Kom­mu­ni­ka­ti­on statt­fin­det.“ Die über­zeu­gend­ste Lö­sung kam vom Wie­ner Bü­ro Pool. Sie hals­ten sich selbst ei­ne ge­hö­ri­ge Por­ti­on Tüf­te­lei auf: Nicht nur, dass sie die maß­ge­schnei­der­ten Mö­bel selbst ent­war­fen, es gleicht auch kei­ne ein­zi­ge Woh­nung der an­de­ren. „Pool hat ge­nau un­se­re Spra­che ge­trof­fen, fast, als ob sie un­se­re Ge­dan­ken le­sen könn­ten“, freut sich Mar­kus Rei­ter.

Fix­vo­ka­bu­lar die­ser ge­mein­sa­men Spra­che: Hier geht es um die Rück­kehr zur Nor­mal­ität, nicht um Auf­fang­la­ger-Tris­tes­se. Mehr als das ab­so­lu­te Mi­ni­mum darf da durch­aus drin sein. Pass­iv­haus­stan­dard, je ei­ne Wasch­kü­che pro Ge­schoß, Kü­chen­zei­len mit Back­rohr. „Die Ent­schei­dung, voll­wer­ti­ge Kü­chen ein­zu­bau­en, ist ein wich­ti­ger Fak­tor für das selbst­ver­ant­wort­li­che Woh­nen“, be­tont Mar­kus Rei­ter. Ar­chi­tekt Christ­oph Lam­mer­hu­ber von Pool er­gänzt: „Die Be­woh­ner hier ha­ben ge­nau die­sel­ben Be­dürf­nis­se wie an­de­re Nut­zer. Die Tat­sa­che, dass hier an der Aus­stat­tung nicht ge­spart wird, ist auch ei­ne Form von Ge­rech­tig­keit.“

Eis­die­len­sor­ti­ment

Auch beim we­sent­li­chen ar­chi­tek­to­ni­schen Ele­ment wur­de auf Bil­lig­look ver­zich­tet: Das Stie­gen­haus, das sich mit zahl­rei­chen Sei­ten­gän­gen, Win­keln und Ni­schen durchs Haus schlän­gelt, ist mehr ei­ne hel­le, freund­li­che in­ne­re Stra­ße als ein ne­on­be­leuch­te­ter Funk­ti­ons­schacht. Mit sei­nem Farb­sche­ma aus Blü­ten­ro­sa, Sieb­zi­ger-Jah­re-Tan­nen­grün, Ap­fel­grün, Blau­be­er­blau und Va­nil­le­beige, das sich über Luft­räu­me ge­schoß­über­grei­fend ver­zahnt, wirkt es fast wie ein aus­ein­an­der­ge­fal­te­tes Eis­die­len­sor­ti­ment.

Stie­gen­haus und Woh­nun­gen bil­den so ein in­ei­nan­der ver­schach­tel­tes Raum­puz­zle vol­ler E­cken und Win­kel. So et­was macht auch ein Ar­chi­tekt nicht aus rei­nem Spaß­be­dürf­nis. „Die Woh­nun­gen wir­ken da­durch grö­ßer“, sagt Christ­oph Lam­mer­hu­ber, „und sie sind auch bes­ser be­nutz­bar.“ Hier ein Platz für die Gar­de­ro­be, da ein Eck für den Schrank. Auch im Stie­gen­haus fun­gie­ren die vie­len Ni­schen und Ge­mein­schafts­be­rei­che als wich­ti­ge, weil ge­schütz­te Pri­vat­sphä­re. Wer will, kann durch die Stock­wer­ke fla­nie­ren und mit den Nach­barn beim Wuz­ler vor minz­grü­nem Wand­hin­ter­grund ver­wei­len, oh­ne per­ma­nent un­ter Be­ob­ach­tung zu ste­hen. Be­geg­nun­gen sind mög­lich, aber nicht er­zwun­gen. Ei­ne Wohl­tat für die Be­woh­ner, die an­de­res ge­wohnt sind: „Im Über­gangs­wohn­heim hat’s je­der so­fort mit­be­kom­men, wenn man aus der Tür ge­gan­gen ist“, er­in­nert sich Pe­ter E. Sein Ur­teil zum Stie­gen­haus: „Leicht ab­strakt, aber voll ge­ni­al!“

Ein zwang­lo­ses An­ge­bot, so könn­te man das Neu­ner­haus um­schrei­ben. Psy­cho­lo­gi­sche und ärzt­li­che Be­treu­ung, So­zi­al­ar­beit, Es­sens­aus­ga­be und Floh­markt sind im Haus un­ter­ge­bracht, doch klin­gelt kein stren­ger Auf­se­her täg­lich an der Woh­nungs­tür, um Teil­nah­me ein­zu­mah­nen. Auch ein Al­ko­hol­ver­bot gibt es nicht. Das Ca­fé mit Hof im Un­ter­ge­schoß wird ei­gen­stän­dig von den Be­wohn­ern be­trie­ben, selbst hier fin­det sich im klein­sten De­tail noch die psy­cho­lo­gisch re­le­van­te Ni­sche: Die Ar­chi­tek­ten ga­ben der Bar kam­mar­ti­ge Aus­buch­tun­gen, an de­nen man sich ge­gen­über­sit­zen kann – wenn man es will.

Mehr Licht ins In­ne­re

„Wich­tig ist es, das The­ma Woh­nungs­lo­sig­keit in die Stadt­vier­tel zu in­te­grie­ren. Es gibt Kurz­zeit-Apart­ments für Ma­na­ger, wa­rum al­so nicht auch für Ob­dach­lo­se?“, sagt Ge­schäfts­füh­rer Mar­kus Rei­ter. Schließ­lich ist Woh­nungs­lo­sig­keit in Zei­ten der stei­gen­den Le­bens­hal­tungs­kos­ten und „wor­king poor“ kein Rand­the­ma mehr – stig­ma­ti­siert ist es den­noch. „Es gibt ei­nen ho­hen An­teil an pre­kär Woh­nungs­lo­sen“, er­klärt Mar­kus Rei­ter. „Men­schen, die bei Freun­den oder Ver­wand­ten auf der Couch woh­nen. Das ist ver­steck­te Ob­dach­lo­sig­keit. Es geht uns da­rum, Scham und Stig­ma­ti­sie­rung zu ver­mei­den. Die ho­he Qua­li­tät des Woh­nens ist auch ein Sig­nal an die Be­woh­ner, ei­ne Ein­la­dung, ihr Le­ben zum Bes­se­ren zu ver­än­dern.“

Ein bun­tes Stie­gen­haus-Woh­nungs-La­by­rinth, ein ge­räu­mi­ges Ca­fé im Haus: Es ist ein fröh­li­ches Pa­ra­dox, dass ein Haus, das in er­ster Li­nie ein „nor­ma­les Wohn­haus“ sein will, et­was ganz Ei­ge­nes ge­wor­den ist, ei­ne Ty­po­lo­gie für sich. Da passt es gut, dass die Ar­chi­tek­ten auch bei der Fass­ade mehr als das Mi­ni­mum her­aus­hol­ten: Die weiß ver­putz­ten, nach au­ßen auf­ge­wei­te­ten Fens­ter­lei­bun­gen ver­mei­den die bei Wär­me­dämm­fass­aden üb­li­che Schieß­schar­te­nop­tik und ho­len mehr Licht ins In­ne­re.

Pe­ter E. sitzt auf dem So­fa hin­ter sei­nem hel­len Fens­ter, den Hund zu sei­nen Fü­ßen, und lä­chelt. „Es ist ein Ver­such ei­nes nor­ma­len Le­bens“, sagt er. „Ein ge­wis­ser Stan­dard des Woh­nens, den man nicht ver­lie­ren mag. Und man weiß, dass man et­was da­für tun muss. Es ist zum er­sten Mal ein Ge­fühl von Woh­nen.“ – „Nein“, kor­ri­giert er sich: „Ei­gent­lich ein Ge­fühl von Le­ben.“

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