Zeitschrift

TEC21 2016|05-06
Lebendiger Sichtbeton
TEC21 2016|05-06
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Fest und verschieblich

Die Hauptfront des Sprengel-Museums in Hannover ist eine 75 m lange, monolithische Vorhangfassade. Die Ingenieure von Drewes + Speth konstruierten den Sichtbeton möglichst zwängungsarm – ein Balanceakt, der einzig in der Fuge der Südfassade sichtbaren Ausdruck !ndet.

30. Januar 2016 - Thomas Ekwall
Die Museumserweiterung von Marcel Meili, Markus Peter Architekten Zürich setzt mit ihrer Aussenhaut einen archi­tektonischen Kontrapunkt zu den postmodernen Vorgängerbauten (zur Architektur vgl. «Kabinett der Abstrakten»). Schon auf den ersten Blick hinterlässt die Hauptfassade einen besonderen Eindruck: Die feingliedrige und zugleich wuchtig wirkende Wandscheibe kragt über einem zurückversetzten, verglasten Erdgeschoss aus. Dieser Eindruck bestätigt sich auch statisch, denn die Wand wird an ihrem oberen Rand konsolenartig gefaltet, um ihre Lasten in die Querwände der Ausstellungsräume einzuleiten.

Diese Querwände bilden zusammen mit den übrigen Wänden und den Geschossdecken ein räumliches statisches System, das die Anforderungen grosser Spannweiten und des dreiseitig um bis zu 4 m überhängenden Ausstellungs­geschosses effizient erfüllt. Die umlaufende Sichtbeton­fassa­de aus anthrazitgefärbtem Beton weist fünf unterschiedliche Wanddicken von 25 bis 49 cm auf, die die reliefartigen Vor- und Rücksprünge erzeugen. Verschiedene Nach­bearbeitungstechniken kamen bei der grössten Wandstärke zum Einsatz: Hier wurde die Oberfläche geschliffen und poliert. In den übrigen Bereichen, wo die Schalung mit Schalungstafeln ausgeführt worden war, blieb die Oberfläche roh belassen.

Da die Fassade der Witterung ausgesetzt ist, wird die Zeit nicht spurlos an ihr vorübergehen, doch dank sorgfältig ausgebildeten Details – etwa den minimal geneigten waagrechten Flächen, den ausgerundeten konkaven Kanten zur Begrenzung von Kerbspannungen oder der keilförmigen Tropfkante – könnte eine edle Patina daraus entstehen.

Ein- oder zweischalig

Bis zur Ausschreibung der Baumeisterarbeiten entwickelten die Architekten und Ingenieure mögliche Kon­struktionsprinzipien: Eine einschalige, innengedämmte Sichtbetonfassade wäre bei gleitender Lagerung ohne Dilatationsfugen ausgekommen, eine attraktive Lösung. Eine monolithische einschalige Konstruktion aus Dämmbeton kam nicht in Betracht, da beim Schleifen und Polieren die Zuschlagstoffe ungünstig freigelegt worden wären. Schliesslich wurde eine wirtschaftlichere, dafür konstruktiv anspruchsvollere Lösung mit einer zweischaligen, kerngedämmten Betonfassade realisiert.

Die Kunst dieser Konstruktion bestand darin, die Fassade zu halten und zugleich die Bewegungen, die die Sichtschale gegenüber der Innenschale infolge von Temperatureinwirkung und Betonschwinden vollzieht, möglichst zwängungsfrei zuzulassen. So ist die Fassade bis auf einen mittigen Fixpunkt in Gebäudelängsrichtung frei verschieblich gelagert. Die Eigenlast wird punktuell über Elastomergleitlager in die Primär­kon­struktion übertragen. Für die Sogverankerung entwickelten die Ingenieure Einbauteile aus nichtrostendem Stahl, die Zugkräfte senkrecht zur Fassadenebene auf­nehmen können und im Übrigen frei beweglich sind.

Vorhangfassade aus einem Guss

Bei der gewählten Konstruktion treten rechnerisch an den Enden der Längsfassade Verschiebungen von bis zu 27 mm auf, die sich je nach Jahreszeit in unterschiedli­cher Richtung ergeben. Die gut 24 m langen Stirnseiten sind einschalig konstruiert und in den Längsfassaden aufgehängt, somit können sie der Dehnung der Längsfassaden zwanglos folgen. Die Südfassade wurde mit besonderen Dilatationsfugen ausgebildet, die zugleich Zwangsbeanspruchungen ausschliessen und bestimmte Kraftwirkungen ermöglichen (vgl. Skizze). Der Verlauf der Fuge folgt im Einklang mit dem Fassadenrelief und den statischen Erfordernissen der Figur einer überdimensionalen Nut- und Federverbindung (vgl. Abb.).

«Zu Anfang haben wir uns ganz für die einschalige Konstruktion eingesetzt, da sie dem Grundgedanken in höchster Klarheit entsprochen und die unvermeidlichen Zwangskräfte auf ein Minimum begrenzt hätte», meint Martin Speth vom Ingenieurbüro Drewes Speth. «Doch der wesentliche Vorteil der gewählten zweischaligen Bauweise war die weitgehend unabhängige Ausführung des Innenausbaus und der Relieffassade, die nach der Erstellung der Innenschalen mit wirtschaftlicher Systemschalung parallel zueinander erfolgen konnte.»

Aus der Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur entstand eine Fassade, die schlicht und ruhig erscheint, zugleich aber die Schwere des Betons mit der Empfindlichkeit einer Glasfassade vereint.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: