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db deutsche bauzeitung 05|2016
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db deutsche bauzeitung 05|2016

Ein Taj Mahal für Julie

Das »House for Essex« ist einer fiktiven Frau gewidmet, die ein ganz durchschnittliches Leben führte. Seine Architektur hingegen zeigt sich ganz und gar ­ungewöhnlich und ist das Ergebnis einer wie selten ­geglückten, kohärenten und befruchtenden Zusammen­arbeit zwischen dem Künstler Grayson Perry und dem ­Architekten Charles Holland von FAT Architecture.

1. Mai 2016 - Jay Merrick
Architekten sprechen oft von der »Geschichte« eines Entwurfs. Wie aber verhält es sich, wenn der Entwurf selbst eine Geschichte abbilden soll? Eben das ist beim »House for Essex« der Fall und so lässt es sich auch nicht in der gängigen Art beschreiben. Bautypus, Form, Funktion und Kontext sind selbstverständlich auch hier relevant, aber nicht in dem Maß wie sonst üblich.

In der Grafschaft Essex, deren Bewohner vom Rest des Landes oft unfairer­weise als »ein wenig zu laut« charakterisiert werden, liegt das kleine, unspektakuläre Dorf Wrabness. Etwas unterhalb des Orts steht das Haus am Ende der unbefestigten Black Boy Lane, von der die Felder zu beiden Seiten sanft abfallen und der Blick auf das Mündungsgebiet des Flusses Stour fällt. Durch seine exakten Formen, die ungewöhnlichen Details und die kräftige Farb­gebung hat das kleine Gebäude eine derart spezielle Ausstrahlung, dass man annehmen könnte, es sei mit Photoshop in die idyllische Landschaft hineinmontiert worden.

Der international bekannte Künstler Grayson Perry erdachte das Haus mit der eigenartig intensiven Wirkung als »zärtlich-surreales« Denkmal für eine fiktive Frau aus Essex namens Julie Cope. Gemeinsam mit dem Architekten Charles Holland vom Büro FAT Architecture – das sich 2013 auflöste und der seither Mitinhaber des Büros Ordinary Architecture ist – hat er es für den ambitionierten Ferienhausanbieter »Living Architecture« entworfen. Unter künstlerischer Leitung des Architekturphilosophen Alain de Botton lässt ­Living Architecture seit einigen Jahren Ferienhäuser von bedeutenden ­Planern, u. a. von MVRDV und NORD, bauen. Peter Zumthor soll demnächst die Reihe der architektonisch anspruchsvollen Rückzugsorte ergänzen.

Schrill und tragisch

Die Lebensgeschichte von Julie Cope ist in einem langen Gedicht, das als schmales grünes Büchlein auch im Dorfladen von Wrabness erhältlich ist, niedergeschrieben. Julie wurde 1953 auf Canvey Island am nördlichen Ufer der Themse auf einem Lurexvorhang, der von einer Gardinenstange gerissen worden war, geboren. Dank ihrer Intelligenz stieg sie aus der Arbeiterklasse auf und führte ein Leben in der Mittelschicht. Sie starb 2014, umgerissen von einem Mopedfahrer, der ihr gerade ein Currygericht nach Hause in die Black Boy Lane liefern sollte. Ihrem zweiten Mann Rob hatte sie einmal erzählt, dass sie am glücklichsten mit ihm in der indischen Stadt Agra gewesen sei, und so gelobt er, ein »Taj Mahal am Stour« zu bauen.

Das House for Essex ist ein Mini-Taj Mahal von maximaler Opulenz. Hervorzuheben sind dabei die wunderschönen aufwendig handgefertigten Keramikfliesen der Fassade, deren geprägte Motive sich auf verschiedene Aspekte von Julies Leben und der Grafschaft Essex beziehen: nackte Julies, Herzen, Audiokassetten, der Buchstabe J, Sicherheitsnadeln für Windeln, Räder und das Wappen von Essex. Das Dach ist mit übergroßen Skulpturen geschmückt – ein karmisches Rad, eine schwangere Julie aus Metall, eine Leuchtturmlampe und ein gebauchter keramischer Schornsteinaufsatz. Diese Gestaltung könnte man ohne Weiteres als lustig, aber auch als unbeholfen oder infantil bezeichnen. Doch sie ist nicht trivial; auch nicht dekadent oder betont künstlerisch aufgemacht. Vielmehr ist sie durchdrungen von einem ironischen und zugleich zugewandten Blick auf das vermeintlich Banale eines jeden Lebens.

Artefakte statt Abstraktionen

Kürzlich fragte Holland in einem Artikel: »Können Gebäude sowohl in der Welt anspruchsvoller Architektur als auch im alltäglichen, gängigen Sinn bestehen?« Er bejaht die Frage und ist überzeugt davon, dass Dinge Bedeutungen besitzen können, »die der Tendenz in der Architektur, dem Abstrakten an sich einen hohen Wert beizumessen, widerstehen«.

Das House for Essex hat nichts Abstraktes – auch wenn es schwerfällt, seine Form und Materialität einem genauen Architekturtypus oder -stil zuzuordnen. Auf einen einfachen Nenner gebracht, kann das Gebäude mit all seinen Artefakten als Ort der Erinnerung bezeichnet werden. Aber auch andere ­Interpretationen liegen nahe: ein Mausoleum, eine »folie«, eine neo-mittel­alterliche Stabkirche; Holland selbst findet, es sei einer russischen Datscha nicht unähnlich.

Eine »folie« der Erinnerung ist wohl die zutreffendste Typologisierung, und aufgrund seiner Detailfülle und seiner starken objekthaften Wirkung könnte das Haus mit Gebäuden wie der Triangular Lodge in Rushton verglichen werden, die 1597 von Sir Thomas Tresham als Hommage an die Heilige Dreifaltigkeit realisiert wurde. Auch hier sollten Bauform und Details eine bestimmte Botschaft vermitteln – in diesem Fall über die ­numinosen Qualitäten der Zahl Drei: Die Lodge hat drei Geschosse und einen dreieckigen Kamin, die drei Fassaden sind 33 Fuß breit, und jede Fassade hat drei Giebel, drei dreieckige Fenster und drei Wasserspeier.

Das House for Essex wiederum zeichnet sich durch eine teleskopartige Abwicklung entlang seiner Längsachse aus: Man kann sich gut vorstellen, wie seine reich verzierten Bestandteile sauber in- oder auseinander gleiten. Von Süden gesehen, zeigt es sich als gestaffeltes Ensemble vierer giebelseitig verbundener Gebäudeabschnitte, die jeweils von einem steilen, kupfergedeckten Satteldach mit doppelter Tonnengaube abgeschlossen werden. Abgesehen von ihrer unterschiedlichen Größe sind die Bauteile praktisch identisch – einer Matroschka-Puppe nicht unähnlich.

Die rote Tür des Haupteingangs geht vom kleinsten Baukörper aus nach ­Süden; auf beiden Seiten des dritten Baukörpers befinden sich Flügeltüren, und Stufen führen zu einem an eine Kirchenpforte erinnernden Eingangsvorbau auf der Nordseite.

Halb Kapelle, halb Sakristei

Das kleinste Volumen im Süden nimmt einen Windfang mit einem Bad da­rüber auf, im zweiten befindet sich eine Diele mit Treppenaufgang und WC, im dritten dann eine Wohnküche mit zwei Schlafzimmern darüber, und im größten Volumen ein zwei Geschoss hohes Wohnzimmer. Leuchtend bunte Wandteppiche und Tapeten mit Szenen aus Julies Leben bestimmen diesen Raum, in dem die in ihren Unfall verwickelte Honda C90 als eine Art Kronleuchter hängt.

Für Holland ist das Wohnzimmer eine Kapelle und die übrigen, dienenden Räume des Hauses entsprechen der Sakristei. Die Übergänge zwischen »Kapelle« und »Sakristei« sind äußerst theatralisch gestaltet: Neben dem ­Kamin im EG befindet sich eine Geheimtür, aus den Schlafzimmern führen Schränke ohne Rückwand zu Balkonen mit Blick auf den Kapellenraum. ­Hollands Inspirationen für diese architektonischen Spiele reichen von Sir John Soanes Haus in London (einer Mischung aus Wohnhaus und Museum im Stil des Eklektizismus) über Edwin Lutyens räumliche Widersprüche bis hin zu den stark handwerklich geprägten Innenräumen eines Adolf Loos.

An den Wochenenden, so steht es in Perrys Gedicht, »suchten [Julie und Rob] einen Schrein, ein Heim / Für ihre Liebe, und sie schlenderten darin herum, / Ein zusammengestückeltes Haus an einer Nase / die über den Stour nach ­Norden nach Suffolk blinzelte / mit rauem Putz, banal, aber ganz besonders für sie …« Grayson Perry und Charles ­Holland haben dafür gesorgt, dass Julie Cope nicht gelangweilt umhergeistern muss. Sie ­haben eine ungewöhnliche und eindringlich menschliche Erinnerungsstätte geschaffen, mit der sie einzigartiges und zugleich ganz gewöhnliches Leben würdigen. Das Haus ist ein opulentes memento mori, in seiner Verortung im 21. Jahrhundert so eindrücklich wie etwa Ligier Richiers Skulptur von Wilhelm von Oraniens ­Skelett, umgeben von den Symbolen seines privilegierten Lebens im 16. Jahrhundert.

Selten ergänzen sich Künstler und Architekten so, dass sich ihre Arbeit ­tatsächlich als gemeinsames Werk vermittelt. Julie Copes Schmuckschatulle von einem Heim, zugleich architektonische Realität und Fantasterei, beweist, dass es möglich ist.
[Übersetzung: Dagmar Ruhnau]

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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