Bauwerk

Wohnbebauung Zwicky-Süd
Schneider Studer Primas - Dübendorf (CH) - 2016

Umgarntes Wohnen

Wohnbebauung Zwicky-Süd in Zürich-Dübendorf (CH)

Auf dem Areal der Schweizer Spinnerei »Zwicky« ist ein beachtenswertes neues Wohnquartier entstanden. Die außergewöhnliche Konstellation von Auftraggebern und der von schroffen Nachbarschaften und Gegensätzen ­geprägte Ort bilden die Grundlage für ein radikales Statement für Verdichtung und urbanes Leben an der ­Peripherie.

5. Dezember 2016 - Ulrike Kunkel
Wasserkraft war das im wahrsten Sinne treibende Element für die Mechanisierung der Schweizer Textilindustrie im frühen 19. Jahrhundert. Mit der ­Eigenart, dass sich die Fabriken zumeist nicht mit den bestehenden Siedlungszentren verbanden, sondern entstanden, wo die Ressource Wasser in ausreichendem Maße vorhanden war. Das galt auch für die auf Nähfäden und Webgarne spezialisierte Spinnerei »Zwicky«, die 1840 ihre Produktion auf ­einem 10 km nordöstlich vom Stadtkern Zürichs gelegenen Areal zwischen den damaligen Dörfern Wallisellen und Dübendorf aufnahm – dort, wo der Chriesbach in das Flüsschen Glatt mündet. Das Fabrikgelände erweiterte sich sukzessive, mit aller Macht um 1900; vom Renommee der Firma zeugte nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die Eigentümer ihre Fabrikantenvilla vom Zürcher Stadtbaumeister Gustav Gull errichten ließen. Das Logo der Firma, die Katze mit der Garnspule, wurde zu einer Schweizer Ikone. Doch die um 1970 einsetzende Krise der Textilindustrie verschonte auch die Zwicky & Co. AG nicht. Die Produktion – Zwirnerei, Färberei, Spulerei – wurde ins Ausland verlagert, 2001 erfolgte das Aus für den Standort. Schrittweise begann die Umnutzung der historischen Bauten, Hausarchitekt Tomaso Zanoni entwickelte die Pläne für eine Transformation und Neubebauung des Areals mit insgesamt sieben Baufeldern. Das vielleicht problematischste, aber auch größte Baufeld E ­befand sich im Süden des Geländes. Es ist auf der Nord­seite durch ein S-Bahn-Viadukt vom ehemaligen Produktionsareal mit den historischen Bauten abgetrennt und wird nach Osten und Süden von zwei viel­ ­befahrenen Ausfallstraßen begrenzt. Dazu kam eine unwirtliche Umgebung: Autohäuser, ­Gewerbegebiete und keine Anbindung an den öffentlichen ­Nahverkehr.

Was also machen mit solch einem Terrain? Die Grundstückseigentümer schalteten die Immobilienberatungsgesellschaft Wüest & Partner ein, und diese nahm Kontakt mit der Stadt-Zürcher Baugenossenschaft Kraftwerk 1 auf, die einerseits seit ihrer Gründung stark alternative Ansätze im Wohnungsbau verfolgt und andererseits Erfahrung mit städtischen Randlagen besitzt: Die erste Siedlung (2001) entstand im Zürcher Westen an der viel befahrenen Hardturmstraße zu einer Zeit, als dieses Gebiet noch nicht als trendig galt; 2012 wurde ein Mehrgenerationenhaus im Außenbezirk Höngg fertiggestellt.

Kraftwerk 1 ließ sich auf das Experiment ein und so wurde 2009 ein Studienauftrag ausgeschrieben, den das junge Büro Schneider Studer Primas für sich entscheiden konnte. Da der finale Nutzungsschlüssel hinsichtlich des Verhältnisses von Wohn- zu Gewerbeflächen noch nicht feststand, war von den Wettbewerbsteilnehmern Flexibilität gefordert. Das kam Schneider Studer Primas entgegen, die auch in anderen Projekten Ideen aufgezeigt haben, wie sich auf die jeweiligen Nutzungsanforderungen reagierende Häuser ­entwickeln lassen und die selbst die sonst herrschende Mutlosigkeit bei Baugenossenschaften beklagen.

Beim Areal Zwicky-Süd reüssierten sie im Studienauftrag mit einem Konzept, das aus drei Grundtypen besteht: schmalen Scheiben, die in winkelförmiger Konfiguration (nicht zuletzt aus Gründen des Lärmschutzes) die Siedlung umgeben, ebenso hohen massiven Blocks mit Grundflächen von 30 x 40 m und schließlich zweigeschossigen Hallen. Eine Vielzahl brückenartiger Übergänge sollte die einzelnen Volumina auf unterschiedlichen Ebenen mitein­ander verbinden.

Natürlich unterlag das Projekt im Laufe der Planungs- und Realisierungs­phase einigen Modifikationen. Doch das starke und klare Grundkonzept ist bestehen geblieben – und es hat sich bewährt, obwohl die zusammen mit dem Projektentwickler Senn aus St. Gallen erstellte Siedlung am Ende drei verschiedene Bauherren besitzt – der Baugenossenschaft Kraftwerk 1 sind das Unternehmen Pensimo mit zwei Anlagestiftungen und die Swiss Life zur Seite getreten. Das ist überaus erfreulich und eine Tatsache, die dieses Projekt so bemerkenswert macht. Denn das Engagement von Pensimo und Swiss Life zeigt, dass auch renditeorientierte Anleger konventionelle Pfade zu verlassen bereit sind und an einem ungewöhnlichen Standort in ein ungewöhnliches Projekt investieren. Durch die Bauweise mit tragenden Fassaden aus Betonfertigelementen ließ und lässt sich der Innenausbau variieren, die Bauten der Genossenschaft sehen also von außen gleich aus wie die der privatwirtschaftlichen Investoren. Das führt zu einem einheitlichen Bild der Siedlung und stärkt deren Identität. Veränderungen ergaben sich während der Planungszeit besonders durch die Erhöhung des Wohnungs- gegenüber dem Gewerbeanteil. Dieser Entwicklung fielen einige der zweigeschossigen Hallen zum Opfer. Auch die Anzahl der ursprünglich vorgesehenen Brücken und Übergänge zwischen den Gebäuden wurde aus Kostengründen reduziert. Dass es ­dennoch zwei gibt, verdankt sich einem glücklichen Zufall: Es handelt sich um aus Stahlträgern zusammengeschweißte Passerellen, die als Provisorien während des Umbaus des Escher-Wyss-Platzes in Zürich eingesetzt waren, günstig erworben werden konnten und im Zwicky-Süd-Areal ihre zweite, nunmehr dauerhafte Verwendung gefunden haben.

Die Scheiben mit ihrer Bautiefe von 8 m werden z. T. über Laubengänge ­erschlossen, dort allerdings, wo sie direkt an Verkehrsstraßen stoßen, durch Treppenhäuser, um die lärmabgewandte Seite für private Außenräume freizuspielen. In den Scheiben finden sich kleine und mittelgroße Wohnungen, ­Studios, unten auch Räume für Kleingewerbe und Läden. Ein Teil der südöstlichen Scheibe dient als Hotel, das von der auch das Café ZwiBack samt ­Bäckerei unterhaltenden Stiftung Altried – Zentrum für Menschen mit ­Behinderung betrieben wird.

Die ungewöhnlichsten Wohnungstypologien weisen die beiden Großblocks auf. Von der Idee eines Geschäftshauses mit flexibel einteilbarer Bürofläche inspiriert, demonstrieren sie, dass kompakte Volumina, wie sie nicht zuletzt aus energetischen Gründen gefordert werden, auch für Wohnzwecke genutzt werden können. Im Block von Kraftwerk 1 bringen zwei Treppenhäuser und ein Lichthof Tageslicht in das Innere, wobei einige Wohnungen durch die gesamte Gebäudetiefe von 30 m hindurchgesteckt sind. Dunklere Bereiche in den Wohnungen können als Fernsehzimmer, Studio oder Bibliothek genutzt werden. Die Wohnungen besitzen bis zu 14 Zimmer und sind für (nicht-studentische) Wohngemeinschaften vorgesehen. Der Block der Anlagestiftung Adimora umfasst hingegen primär Familienwohnungen, die sich um zwei große, gleichsam in das Volumen gestanzte Erschließungshallen gruppieren.

Die zweigeschossigen Hallenvolumina fungieren als inwärts ausgreifende Sockel der Scheiben. Sie dienen als Geschäfts- und Lagerräume sowie als Einstellhallen für Fahrräder und (die wenigen in der Siedlung zugelassenen PKWs); im Westen wird das Hallenvolumen in Form von zweigeschossigen, über kleine Patios im OG belichteten Reihenlofts für Wohnzwecke genutzt.

Zwicky-Süd, das unweit der Stadtgrenze von Zürich auf dem Gebiet der Gemeinde Wallisellen und Dübendorf liegt, ist in vielerlei Hinsicht vorbildlich. Es zeigt, wie Genossenschaften neue Wohnformen entwickeln, Bewohnerinnen und Bewohner in den Planungsprozess involvieren und einen sozialen Mix erzeugen, der, so der Anspruch, dem der Stadt Zürich üblichen Durchschnitt entsprechen soll, um soziale Homogenität zu vermeiden und ein ­lebendiges Quartier mit eigener Identität zu bilden. Es beweist, dass derlei Konzepte, die noch vor wenigen Jahren nur von pionierhaften Genossenschaften verfolgt wurden, inzwischen auch bei Investoren auf Akzeptanz stoßen. Schließlich aber ist das Projekt von Schneider Studer Primas auch ein überaus gelungenes Beispiel für ein zeitgemäßes und intelligentes dichtes Bauen an einem suburbanen Standort. Der Rauheit der Umgebung begegnen die Architekten weder mit romantisierender Kleinteiligkeit, noch mit herkömmlichen städtebaulichen Mustern, die – wie das unweit auf Basis eines Masterplans von Vittorio Magnago Lampugnani entwickelte Richti-Areal – seltsam ­unwirklich erscheinen. Auch ästhetisch verfolgen sie die Idee des Rohbaus – ein Bild, das sich durch die Fassaden mit ihren dreischaligen, kerngedämmten Thermowänden aus Betonfertigteilen, die teilweise Bekleidung aus rostenden Stahlplatten sowie die ­Metallgestänge und Maschendrahtgitter der Laubengänge und Balkonzonen einstellt. Um den städtischen Charakter zu unterstützen und die Intensität innerhalb der Siedlung zu stärken, verzichten sie auf Rasenflächen, Beete, ­Hecken und Bäume. Stattdessen werden Rank- und Kletterpflanzen mit der Zeit die Außenräume überwuchern: die Laubengänge, die filigranen und transparenten Balkontürme, die Dachbereiche der Hallen, die stählernen Passerellen. Kein Abstandsgrün also, das hilflos mit den Bewohnern koexistieren muss, sondern Pflanzen, die Räume schaffen und die Außenbereiche der Wohnungen und die Zwischenzonen beleben.

Das Projekt ist in seiner Konzeption radikaler als fast alles, das derzeit in ­Zürich entsteht. Mag sein, dass der Standort mit seinen diversen Beeinträchtigungen die Stringenz befördert hat. Auf jeden Fall ist Zwicky-Süd ein dezidiertes Statement für Verdichtung und urbanes Leben in der Peripherie. Einer Peripherie, die langsam ihren unwirtlichen Charakter verliert: Seit einigen Jahren hält die Glatttalbahn direkt vor der Haustür, und der Chriesbach ­wurde inzwischen renaturiert.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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