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Wenn sich Häuser verhüllen
Spectrum

Je mehr sich die Architektur im städtischen Raum zurücknimmt, je sachlicher und kühler sie sich artikuliert, desto eher kann die frei gewordene Fläche von neuen Interessen eingenommen werden. Die virtuelle Stadt: auf dem Weg zu einer neuen Urbanität?

21. Januar 2017 - Sophie Schrattenecker
Die Architektur, welche seit ihren Anfängen Antworten sucht auf Fragen der Raumordnung, findet sich zunehmend in Konkurrenz mit Themen des Design- und Marketingbereiches. Ihr Beschäftigungsbereich wird immer unklarer - ebenso ihr Wirkungsbereich.

Der angebissene Apfel. Sowohl in New York als auch in Aix-en-Provence wurden in den vergangenen Jahren Apple-Flagstores errichtet. Eigen ist beiden Filialen des boomenden Computer- und Mobiltelefonherstellers, dass diese weder in ein Geschäftshaus mit Auslage zur Straße hin integriert noch in bestehende Bausubstanz eingefügt wurden. In New York bekam der Apple Store einen prominenten Platz an der Fifth Avenue. Der Zugang erfolgt durch einen transparenten, von einem gigantischen weißen Apfel geschmückten gläsernen Pavillon auf einem öffentlichen Platz, während sich seine Verkaufsflächen im Untergeschoß ausdehnen.

Auch in Aix-en-Provence, der französischen Nobelstadt, bezieht der Apple-Neubau seinen Standort in vorderster Reihe, zwischen historischen Gebäuden am Cours Mirabeau. An einer Stelle, an welcher Bürger des vergangenen Jahrhunderts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Rathaus vermutet hätten, steht nun selbstbewusst einer der gläsernen Paläste einer neuen, globalen Identität. Ein klares Bild wird hierbei vermittelt: Der Konzern als Urvater des Smartphones, das Zentrum der Vernetzung, er erhält seinen Platz im Herzen der Gesellschaft.

Es ist anzunehmen, dass bei der Platzvergabe für dieses Gebäude keine städtebaulichen Fragen im Vordergrund standen. Vielmehr kann die Wahl beider Bauplätze auf wirtschaftliche Faktoren zurückgeführt werden. Die Publikumswirksamkeit eines solchen Apple Stores, seine markttechnische Potenz und das kalkuliert entmaterialisierte Bild, welches der schwebende, angebissene Apfel – beinahe wie in einer gelungenen Fernsehwerbung – in seinem Betrachter hervorruft, bilden Kernthemen dieser urbanen Solitäre.

Der visuelle Reiz. Die neu errichteten Apple Stores stellen ein interessantes Beispiel dar, denn sie tragen jeweils nicht nur zur baulichen Dichte eines Zentrums bei, sondern ebenso zur stadtinternen und globalen Vernetzung. Die großen Ballungszentren der Erde beherbergen Millionen von Menschen ebenso wie die sozialen Netzwerke, welchen diese angehören. Das vom Menschen eingeleitete „Homogenozän“ (ein Begriff aus Charles C. Manns „1493 – Uncovering the New World Columbus Created“) findet seine Blüte in einer Zeit höchsten Informationsflusses, möglich gemacht allein durch mobilen Datenaustausch, Software und Internet.

Das Medium Computer, Datenspeicherung und Datenfluss an sich stellen für den Menschen unsichtbare Prozesse dar, welche sich auf Bildschirmen von Handys und Fernsehern, auf Videoleinwänden und in Beamerprojektionen manifestieren. Eine sinnlich-ganzheitliche Erfahrung des durch diese Medien Vermittelten per se existiert nicht. Einziges angesprochenes Sinnesorgan ist der Sehsinn, der visuelle Reiz, der zwischen projizierter, digitaler Dimension und dem menschlichen Gehirn vermitteln soll. Die visuelle Kommunikation und Datenvermittlung wird zum Kernthema der urbanen Stadt, ist selbst raumbildend geworden. Die Einkaufsstraße ausder Sicht eines Passanten bildet ein dichtes Gewirr an Menschen. Hier lebt die Stadt, hier herrschen Umsatz und die Kraft des Marktes. Aus der Fußgängerperspektive wirkendie straßenbegrenzenden Gebäude verzerrt, nach oben hin verjüngt. Wichtigste Zone ist das Sockelgeschoß, denn es bildet den Abschnitt des menschlichen Hauptblickfeldes. Was sich hier abspielt, wird wahrgenommen. Der visuelle Reiz, das Moment, welches den Betrachter für sich zu gewinnen sucht, ist hier am größten.

Schaufenster sind Teil dieser Sockelzone. Marktforscher und -psychologen beschäftigen sich seit Langem mit der idealen Position von Filiallogos und Werbeplakaten, um ein Maximum an Aufmerksamkeit dem Passanten abzuringen. Das bedeutet: einen Blick. Einen Blick in das Schaufenster, auf das Plakat. Einen Blick auf die Erdgeschoßfassade, das Aushängeschild des Shops. Die Einkaufsstraße aus der Sicht eines Passanten bildet einen Hürdenlauf über Schichten visueller Reize. Hier hat sich zweidimensionale, das Auge ansprechende Stadtkulisse gebildet. Wie in einem Theaterstück bewegen sich die Protagonistinnen und Protagonisten der Stadt auf einer Bühne zwischen informationstragenden Wänden, zwischen Türen undFenstern und Bildern hindurch.

Dennoch sind es die Sinnesorgane, welche uns an die Realität binden. Geschmacks-, Geruchs-, Tast-, Hör- und Sehsinn. Was einst überlebenswichtig erschien – nämlich das Erfassen der Umwelt durch die Sinne im Gesamten –, rückt zugunsten des Visuellen zunehmend an den Rand der Wahrnehmung. Die einzige Inkonstante in jenem fast ausschließlich auf den Sehsinn konzentrierten menschlichen Umfeld stellt die Witterung dar. Regen, Wind und Hitze bilden eine spürbare Dissonanz im Kanon der kontrolliert-gebauten Stadtumwelt. Doch auch dieses Problem wird rasch durch das Errichten von gläsernen Kuppeln und transluzent überdachten, klimatisierten Innenhöfen aus dem Feld der Wahrnehmung geräumt.

Solcherart entstandene Räume suggerieren ein „Draußen“, obwohl sie eigentlich ein geschütztes, abgeschottetes „Drinnen“ sind. Es entsteht erneut das Bild von Realitätsverlust. Das Abbild der Stadt ist zum Lebensraum geworden, die Bühne zum täglichen Umfeld. Der urbane Mensch ist sich seiner Rolle als Hauptdarsteller des Stückes bewusst. In seinen Augen, seinem Gehirn, wird die zweidimensionale Kulisse erst zum Raum. Dieser Raum bietet dem Betrachtenden – ähnlich einem Kinofilm oder Computerspiel – eine konstruierte Wirklichkeit, eine Realität vor der Realität. Eine Kulisse.

Und die Architektur? Die Architektur tritt in den Hintergrund des Bühnengeschehens. Sie wird zum tragenden Konstruktionsraster, zumstatischen Element hinter den Werbe- und Plakatwänden, zu jener Notwendigkeit, welche den Traum an die Wirklichkeit bindet. Sie ist Datenträger viel mehr als selbst Informationsvermittler, Träger des visuellen Reizes geworden.Innen ist sie berechenbar und standardisiert, diese Architektur. In ein und derselben Raumhöhe durchziehen Geschoße Bauten von großem Volumen. Fenster werden im Einheitsmaß, Böden im kostengünstigen Einheitslaminat gehalten.

Die auf eine Vielfalt an Reizen konditionierten menschlichen Sinne stoßen sich stumpf an facettenlosen Farbputzen und Holz imitierenden Fliesen. Ähnliche Gerüche, ähnliche – in Kunstlicht getauchte – Farbnuancen kleiden diese Architektur aus. Der moderne Funktionsbau, der den Augen vieles verspricht, kann den Sinnen nur wenig Vergnügen bereiten. Das kollektive Gedächtnis erinnert sich dennoch an den Gegensatz zwischen Lichtung und Höhle, den Widerspruch von rauem, faserigem Holz und glattem, kühlem Stein.

Oftmals reicht ein visueller Impuls, um diese Erinnerung wachzurufen, eine Verknüpfung im Gehirn herzustellen, die den optischen Reiz an seine Wurzel zurückführt. Es stellt sich die Frage, wie lange wir noch „zum Hörer greifen“ werden, wenn wir auf dem Smartphone eine Nummer wählen, oder „im Telefonbuch blättern“, obwohl im haptischen Sinne kaum mehr Telefonbücher existieren.

Als „Blick auf die Postkarte“ könnte dieser Vorgang bezeichnet werden. Nun löst ein Bild das Erlebt-Gesehene ab. Das Foto tritt vor den Augenblick, die Erinnerung vor die Erfahrung. Auch die Architekturdarstellung findet sich in diesem Zwiespalt wieder, sobald es unmöglich wird, Rendering und Realität voneinander zu unterscheiden. Denn Betrachter eines realitätsgetreuen Renderings haben den zu bauenden Raum ja eigentlich schon gesehen, bevor dieser als reales Erlebnis greifbar wird. Erinnerung und persönliche Architekturerfahrung des Einzelnen kommen hinzu und werden individuell in diese „designte Postkarte“ hineinprojiziert. Nicht selten führt aus demselben Grund das reale, gebaute Ergebnis in der Gegenüberstellung zum virtuellen Abbild zu Enttäuschungen.

So formulieren sich vor allem in Bezug auf den tatsächlich gebauten Raum langsam Zweifel. Ist es wesentlich, eine Arkade zu durchschreiten, oder reicht es schlichtweg aus, einen zu allen Seiten geschlossenen Bau zu durchwandern, auf dessen Aushängeschild groß „Arkade“ geschrieben steht? Wird ein von Kunstlicht ausgeleuchteter Raum im Zentrum einer Shoppingmall, der dem Konsum von Fastfood-Produkten dient,treffend mit dem Namen „Plaza“ bezeichnet? Und was unterscheidet das Buswartehäuschen mit seinen Werbetafeln von der Sitzecke in einer Einkaufspassage?

Informationsträger. Ein Beispiel für die Gegenüberstellung von architektonischem Raum und visuell-virtuellem Raum bildet der Times Square als Zentrum einer der pulsierendsten Städte weltweit. Löscht man aus einem Schnappschuss des New Yorker TimesSquare jegliche Architektur, welche nicht von Werbung bedeckt ist, ergibt sich ein überraschendes Bild: Der zurückbleibende Raum ist beinahe unverändert.

So betrachtet ergibt sich ein neuer Außenraum, der von Information gestaltet und beherrscht wird. Die eigentlich raumbildende Architektur tritt als Datenträger in den Hintergrund. Ab und zu blitzen spiegelnde Glasfassaden zwischen Schriftzügen und Fotografien hervor. Sie verstärken den Eindruck von Informationsdichte durch die Reflexion der Umgebung und lassen keinen Zweifel aufkommen an der urbanen Dichte, welche den Menschen hier umgibt.

Dass die Architektur auf das Ornament verzichtet, ergibt aus dieser Perspektive durchaus Sinn. Nur leere Hauswände sind gute Leinwände. Aufwendig geschmückte Hausfassaden können schwerlich ohneRechtfertigung verdeckt werden, und hübsche Ornamente schmeicheln dem Auge über den Inhalt eines jeden Werbeplakates hinaus. Ein Haus, das in sich eine Aussage trifft, zur Straße hin klar gestaltet ist, trägt bereits Information in sich. Es artikuliert sich. Die Verbannung des Ornaments aus dem öffentlichen Raum hat eine Lücke zurückgelassen, einen „unbeschriebenen“ Ort, eine weiße Leinwand.

Je mehr sich die Architektur im städtischen Raum zurücknimmt, je sachlicher und kühler sie sich artikuliert, desto eher kann die frei gewordene Fläche von neuen Interessen eingenommen werden. Was entsteht, ist eben jene Informationsschicht, die sich zwischen Gebäude und Mensch schiebt.

Es entsteht eine neue Urbanität. Eine Stadt, die sich aus Einzelbildern zusammensetzt. Eine Stadt der bespielten Fassaden. Eine virtuelle Stadt, deren Erfahrungswelt sich auf einen einzigen Sinn konzentriert.

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