Bauwerk

Chiesa del Giubileo
Richard Meier - Rom (I) - 2003
Chiesa del Giubileo, Foto: Klaus Frahm / ARTUR IMAGES
Chiesa del Giubileo, Foto: Klaus Frahm / ARTUR IMAGES

Die fundamentale Wirkung des Lichts

Richard Meiers neue Kirche Dives in misericordia in Rom

20. Dezember 2003 - Gerhard Mumelter
Ignazio Breccia hält inne, stellt seine Tasche auf den Boden aus Travertin und setzt die blaue Schirmmütze auf: „Ich benötige jetzt nämlich beide Hände“, warnt der Bauingenieur. Dann rudern seine Arme in der Luft, beschreiben Kreise und Ellipsen, fahren den Rundungen der schneeweißen Segel in seinem Rücken nach. Jeder Versuch, Breccias Redefluss zu stoppen, wäre zum Scheitern verurteilt.

Warum auch? Schließlich weiß niemand mehr über Richard Meiers neue Kirche zu erzählen. Und vermutlich kennt nur einer den Neubau zwischen den Wohnsilos der römischen Peripherie besser als Ignazio Breccia: Richard Meier selbst, der Projektant, der die Kirche als sein „gelungenstes Werk“ lobt.

Irgendwie könnte das auch Ignazio Breccia sagen. Denn dass es die Kirche gibt, ist allein sein Verdienst. Ihm gelang es, das römische Vikariat zu überreden, sechs weltweit bekannte Architekten zu einem Wettbewerb einzuladen. Und weil „die im Vikariat von Architektur keinen blassen Dunst“ haben, wählte Breccia die Namen gleich selbst aus: Frank Gehry, Peter Eisenman, Santiago Calatrava, Tadao Ando, Günter Behnisch und Richard Meier. Dass er mit dieser Auswahl Erfolg hatte, wertet er als „Zufallstreffer“. Ein missglückter Wettbewerb mit über 500 Teilnehmern hatte das Terrain für Breccias ehrgeizige Initiative geebnet. Doch seine Hoffnungen wurden enttäuscht: „Es bleibt leider eine Eintagsfliege“, ärgerte er sich.

Der Bauingenieur ist ein Humanist alter Schule. Einer, der es „unverzeihlich“ findet, dass die katholische Kirche kein Verhältnis zur zeitgenössischen Architektur hat: „Eine triste Angelegenheit“, schimpft er und schwärmt von den Zeiten, als die Päpste noch große Mäzene waren. „Bei Julius II. ging Raffael ein und aus. Heute gibt es zwischen Papst und Kunst keinen Bezug mehr.“
Dass der 76-jährige Ingenieur mit der Begeisterungsfähigkeit eines Jugendlichen die Bauleitung für das Siegerprojekt von Richard Meier übernommen hat, findet er „durchaus normal. Ich liebe die Herausforderung. Wer, bitte, könnte sich dem Reiz entziehen, an einem Jahrhundertbau mitzuwirken?“ Für den Bau von vier Kirchen war der Sachverständige des Vikariats bereits zuständig. Meiers Projekt allerdings hatte andere Dimensionen. Ohne finanzkräftige Mäzene wäre es nicht realisierbar gewesen. Große Unternehmen ließen sich als Sponsoren gewinnen: der Zementkoloss Italcementi etwa, der britische Glashersteller Pilkington oder der Farbenhersteller Sikkens.

12.000 Stunden verbrachten allein Italcementi-Ingenieure an ihren Computern, um die größte Herausforderung des Neubaus zu meistern: die Errichtung der drei bis zu 27 Meter hohen Segel aus weißem Beton. Schließlich montierten sie an der Baustelle ein 38 Meter hohes, fahrbares Stahlmonstrum, das die 256 vorgefertigten Bauteile zu je zwölf Tonnen hydraulisch in die Höhe hievte und so drehte, dass sie millimetergenau eingesetzt werden konnten.

Dass der 40-jährige Pfarrer Don Gianfranco mit dem Umzug aus dem anonymen Fertigbau in die neue Kirche einige Mühe hat, zeigt die blaue Plastikmadonna mit den elektrischen Kerzen neben dem Altar. Und die mit Klebestreifen an die Travertinwand gehefteten Christusbilder. „Ich fotografiere das alles und schicke es an Meier. Dann gibt es immer wieder ein reinigendes Gewitter“, freut sich Breccia.

Don Gianfranco hat noch andere Sorgen. Die Fotografen gehören dazu und die rund 100 Neugierigen, die den Neubau täglich besuchen. „Sie stören die Andacht der Betenden.“ Ratlosigkeit herrscht auch über die Verwendung des überdimensionalen Pfarrzentrums. „Wir müssen versuchen, am Boden der Realität zu bleiben“, versichert der Pfarrer, der sich nur auf die Mitarbeit Freiwilliger stützen kann.

Tor Tre Teste ist ein Stadtteil an der östlichen Peripherie Roms. Rundum hässliche Mietskasernen, aber legal gebaut. Mit großen, gepflegten Grünflächen. „Ein friedliches Stadtviertel“, versichert Don Gianfranco. Das lichtdurchflutete Innere der Kirche ist ein Raum voller Harmonie. Das Licht will der amerikanische Architekt als „Metapher für das Gute“ verstanden wissen. Die Schmucklosigkeit des Raums mit den Bänken aus Kirschholz sieht er als „Quelle der Inspiration“. Sein Vorbild findet er im Rom früherer Jahrhunderte: „Kein Architekt hat den Umgang mit Licht so revolutionär gepflegt wie Francesco Borromini“, schwärmt der Amerikaner.

„Der Bau ist ein Triumph der Ingenieurkunst“, findet der Projektant. „Was Italcementi hier geleistet hat, ist enorm.“ Für die Kirche entwickelte das italienische Unternehmen einen eigenen weißen Zement mit Titan-Bioxyd, der Schadstoffe bei Sonneneinstrahlung zu Kohlenwasserstoff oxydiert. 600 Tonnen davon flossen in den Kirchenbau. 2600 Tonnen weißer Marmor aus Carrara wurden zu Granulat gemahlen, 550 Tonnen Spezialmörtel verwendet. Acht Kilometer Stahlspannseile und 7,5 Kilometer Stahlgestänge verleihen den luftigen Segeln und Glasdächern Stabilität. 23.000 Stunden verbrachte Meiers Team am Zeichentisch - von ersten Skizzen bis zur Realisierung des Projekts.

Ignazio Breccia, der in den vergangenen Jahren über 4000 Architekten aus aller Welt durch die Baustelle führte, steht noch immer draußen auf der gleißenden Travertinfläche hinter der Kirche. Seine linke Hand greift nach der Tasche, seine Rechte deutet auf die Bögen der altrömischen Wasserleitung in der ausgedehnten Grünfläche. „Architektur“, sagt er mit resigniertem Ton, „war schon immer ein Ausdruck geistiger Größe“.

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