Bauwerk

Parlamentsgebäude
Enric Miralles, Russell Bisset - Edinburgh (GB) - 2004

Exzentrisches Monument

Die neuen schottischen Parlamentsgebäude in Edinburg

Jüngst konnten die von Enric Miralles entworfenen und von Benedetta Tagliabue realisierten neuen schottischen Parlamentsgebäude in Edinburg von ihren Baugerüsten befreit werden. Königin Elizabeth II. wird das exzentrische Bauwerk, in welchem vor einem Monat erstmals die Parlamentsmitglieder debattierten, am 9. Oktober einweihen.

7. Oktober 2004 - Georges Waser
Im Jahr 452 bauten die Pikten in Edinburg die erste Festung - und als von dieser eine Siedlung hügelabwärts auszugreifen und eine zweite Siedlung sich von der Holyrood Abbey nach oben gegen das Schloss hin zu schieben begann, entstand im frühen 12. Jahrhundert die mittelalterliche Old Town. Die im Spätmittelalter zunehmende Platznot führte zunächst zu turmhohen, eng aneinander stehenden Häusern im abfallenden Gelände längs der High Street oder Royal Mile und schliesslich - im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert - zum Bau der neoklassizistischen New Town. Kein Wunder, sah der hier geborene Schriftsteller Robert Louis Stevenson die Stadt als einen Inbegriff der Gegensätze, einen «Traum von Fachwerk und lebendigem Fels». Heute gehört der Stadtteil um die Royal Mile zum Unesco-Weltkulturerbe, und so erstaunt es denn nicht, dass die Schotten, als 1997 ihre politische Autonomie Tatsache geworden war, dem nationalen Selbstbewusstsein gerade hier mit den Parliament Buildings ein Monument setzen wollten. Den Auftrag zum Bau erhielten Enric Miralles.

Mit der Nominierung Miralles' hatte in Schottland auch schon die Kontroverse begonnen, war doch der Spanier erst nachträglich in die Endrunde des Architekturwettbewerbs aufgenommen worden - und zwar, weil Miralles' poetische Vision eines Projekts, zu dem der bergige «Sitz des Artus» den Hintergrund abgab, beim Preisgericht Anklang fand. Dass aber Selbstverwaltung nicht umsonst kommt, mussten bald die Jury und die Politiker erkennen: Waren die Kosten für die Parlamentsgebäude in einem Diskussionspapier vom 24. Juli 1997 noch mit «zwischen 10 und 40 Millionen Pfund» veranschlagt worden, betragen sie jetzt 431 Millionen Pfund. Dass man sich in Edinburg deswegen gelegentlich noch zankt - nicht zuletzt, weil als Parlamentsgebäude die grandiose alte Royal High School zu haben gewesen wäre -, ist verständlich. Allerdings sei festgehalten, dass die Parlamentsgebäude in Schottland der wichtigste Neubau seit rund 200 Jahren sind. Genauer noch: Vergleichbare Ambitionen beflügelten bisher wohl einzig den Bau der gesamten Edinburger New Town.
Exzentrische Aussichten

«En masse» verkörpert das Scottish Parliament 25 000 Kubikmeter Beton, 6000 Quadratmeter Granit für die Aussen- und 2500 Quadratmeter für die Innenmauern sowie einige tausend Tonnen Stahl. Eine «respektvolle» Architektur hatten die schottischen Politiker von Enric Miralles verlangt - und wer vor den neuen Bauten steht, begreift, wie der Architekt diesem Wunsch entsprach. Durch ein «Zurechtbiegen» der einzelnen Gebäude erwirkte er, dass aus dem Komplex ein organischer Bestandteil der unmittelbar zum Berg anwachsenden Landschaft wurde. Zehn Gebäude, das höchste davon mit sechs Stockwerken, schliessen das im 17. Jahrhundert als Adelsresidenz im schottischen «baronial style» entstandene Queensberry House mit ein. Dieses war übrigens einer der Gründe für die Verzögerung, hatte doch seinen desolaten Zustand lange niemand vollständig erkannt. Mit dem Queensberry House lebt in den neuen schottischen Parlamentsgebäuden aber auch die Geschichte weiter. Hier war 1707 in derselben Nacht, in der die Act of Union zwischen England und Schottland unterzeichnet wurde, der wahnsinnige Sohn des Herzogs von Queensberry in die Küche entwichen - wo er einen Küchenjungen ins Feuer warf und diesen danach zu verzehren begann. Die Feuerstelle ist immer noch zu sehen.

Laut Benedetta Tagliabue, die nach dem frühen Tod ihres Mannes Enric Miralles im Juli vor vier Jahren dessen Arbeit fortführte, war das für die neuen Bauten zur Verfügung stehende Grundstück zu klein und musste deshalb dem Garten des Queensberry House Land abgerungen werden - «dadurch hat alles an Zusammenhang gewonnen». Was bei einem Rundgang auffällt, ist denn auch, wie die einzelnen Gebäude wellenähnlich ineinander übergehen. In den Korridoren bieten sich beim Blick durch grossflächiges Fensterglas exzentrische Aussichten: da ein Gewebe aus Stahl und Aluminium, dort Gebäudestützen aus Beton, wie die Mastbäume eines Schiffes in den wolkigen schottischen Himmel ragend. Der Kern des Komplexes ist gleichzeitig der Kern der schottischen Demokratie. Hier, in der Debating Chamber, tagt das Parlament. «Das Grundprinzip hinter dem schottischen Parlament», sagt ein Abgeordneter, «war, nicht wie Westminster zu werden.» Mit anderen Worten: Man wolle diskutieren können und nicht wie in einem Gentlemen's Club zusammensitzen und sich bespitzeln - deshalb sei die Kammer hufeisenförmig angelegt. Jedenfalls kann man atmen in diesem theaterähnlichen Raum, in dem viel natürliches Licht und Holz den Look bestimmen. Wie in anderen Räumen wurde auch in der Debattierkammer ausschliesslich Eichen- und Platanenholz verwendet.
Kostspielige Design-Elemente

Sei es in den sechs Committee Rooms, ein jeder mit einem grossen, in der Form vage an ein Ei erinnernden Tisch im Zentrum, sei es anderswo: Aufwendige Details springen einem buchstäblich auf Schritt und Tritt ins Auge. Meist faszinieren sie, wie die hier und da in eine Decke eingemeisselten Motive, gelegentlich aber empfindet man sie als überschwänglich. So zieren nicht nur jedes Pult zahlreiche Design-Elemente: Sogar jedem Mikrofon wurde die Form des Halms einer Pflanze gegeben. Gespart wurde übrigens auch nicht im Block, in dem jedes Parlamentsmitglied seinen Arbeitsraum mit einem integrierten Abteil für einen Assistenten hat.

Diese Räume erhielten mit sogenannten «Think Pods» eine Zutat. Es sind Erker, deren unterschiedliche Form nur der im Freien Stehende richtig aufnimmt. Wie Mönchsklausen muten sie an, die «Think Pods» - und vorgesehen sind sie eben auch für Parlamentsmitglieder, die in einer stillen Ecke nachdenken wollen. Diese Details sind es auch, die mithalfen, dass der Preis für die Parlamentsgebäude auf astronomische 431 Millionen Pfund stieg. Man denke nur, allein der vom Designer David Colwell entworfene, 36 Fuss lange Empfangstisch in der öffentlichen Eingangshalle verschlang 88 000 Pfund.

Doch steht man nach dem Besuch wieder in der Royal Mile, kommt einem der Gedanke, dass wohl vielen Schotten für einmal ein Statement wichtiger als das Sparen war. Schliesslich stehen ihre neuen Parlamentsgebäude neben dem Holyroodhouse Palace - was heisst: neben der offiziellen schottischen Residenz der englischen Königin. Also geziemte sich ein ansehnlicher Bau. Ähnlich sieht es Frank McAveety, der schottische Kulturminister. Laut ihm werden die Parlamentsgebäude ein massiver Magnet für Touristen sein. Weiter argumentiert McAveety, dass man dem Ganzen eine Lebensdauer von hundert Jahren gibt; «also kosten uns die Gebäude rund 4 Millionen Pfund im Jahr, was ja nicht übermässig teuer ist». Als Fazit hielt ein Kolumnist der Tageszeitung «The Herald» fest: Die schottischen Parlamentsgebäude seien bereit - es bleibe die Frage, ob dies für die schottischen Politiker auch gelte.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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