Bauwerk

Europaparlament
Architecture Studio, G. Valente - Straßburg (F) - 1999
Europaparlament © Architecture Studio

Inszenierte Demokratie

Der Neubau des Europäischen Parlamentes in Strassburg

5. Januar 1999 - Serge von Arx
Im Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im eben fertiggestellten Neubau in Strassburg abhalten. Nach der «bataille du siège» mit Brüssel konnte die Stadt im Elsass ihre Position als europäische Metropole sichern. Das Pariser Architektenteam Architecture Studio schuf einen Glaspalast, der zwischen Anonymität und zur Schau gestellter Demokratie oszilliert.

Der Streit um den Sitz des Europäischen Parlamentes ist vorläufig geschlichtet. 1989 wurde die heutige französische Kulturministerin, Catherine Trautmann, Bürgermeisterin von Strassburg. Ein Jahr später liess sie in der Funktion der Präsidentin der «Société d'Equipement de la Région de Strasbourg» (SERS), aber ohne die Unterstützung des Europäischen Parlamentes einen internationalen Architekturwettbewerb für den Bau eines Parlamentssaales ausschreiben, den das Pariser Architektenteam Architecture Studio gewann. Am 12. Dezember 1992 bestätigte das EU-Parlament am Gipfeltreffen von Edinburg den neuen Sitz für die Sessionen und verpflichtete sich auf 20 Jahre als Mieter für das Projekt mit 200 000 Quadratmetern Geschossfläche in der elsässischen Hauptstadt. Das Kriegsbeil der «bataille du siège», wie Trautmann das Ringen um den Sitz des EU-Parlamentes bezeichnete, wurde begraben: In Strassburg finden künftig allmonatlich die Plenarsitzungen, in Brüssel hingegen die ausserordentlichen Sitzungen statt. Dort tagen zudem die parlamentarischen Kommissionen. Luxemburg hingegen beherbergt das Generalsekretariat.

Ein gläserner Schiffsbug

Nordöstlich des historischen Stadtkerns von Strassburg ragt das «Immeuble du Parlement Européen Nº 4» (IPE 4) wie ein riesiger Schiffsbug aus der gekrümmten Flussgabelung, wo der Ill und der Kanal Marne-au-Rhin zusammenlaufen. Die leicht ansteigende und dann wieder abfallende Glasfassade zeichnet die geschwungene Form des Uferbogens nach. Von aussen kaum erkennbar, durchstösst die Kuppel des Parlamentssaales – der volumetrische und funktionale Kern der Anlage – die glatte Dachfläche aus perforierten Blechplatten, die unter der Sonne wie ein geneigtes Eisfeld erscheint. An der Rückseite wölbt sich die Westfassade auf den grossen Eingangsbereich, der die Parzelle gegenüber einer aus den zwanziger Jahren stammenden Gartenstadt abgrenzt. In der Mitte dieser Glasfront reckt sich der 18geschossige Zylinder des von messerscharfen Sonnenblenden umwundenen, gedrungenen Turms aus dem bogenförmigen Bauvolumen, das ihn zur Hälfte umschliesst. Darin finden 1133 Büroräume Platz, von denen etwas mehr als die Hälfte für die Abgeordneten reserviert sind. Das Innerste des Turms ist ellipsenförmig ausgekernt und als zentraler, den ganzen Komplex erschliessender Eingangshof gestaltet. Dorthin gelangt man über eine breite Treppe. Diese bildet auch den Anfang des Korridors, der diagonal alle Gebäudezonen durchsticht und über eine Passerelle zum bestehenden Parlamentsgebäude auf der anderen Ill-Seite führt. Ein gekurvter Spalt, in dem sich die Rampe zum Parkhaus in die Untergeschosse windet, trennt die zwei Hauptvolumen.

Das von Trautmann als «triangle magique» bezeichnete Ensemble, das aus der «Cour des Droits de l'Homme» – Richard Rogers' Arche für Menschenrechte –, aus dem alten «Parlement Européen» und dem neuen IPE 4 besteht, gruppiert sich um das Bassin de l'Ill. Als wäre er die Fortsetzung der Strasse, die zum alten Parlamentsgebäude führt, durchschneidet ein 200 Meter langer Lichthof in der Form einer «rue jardin» den bogenförmigen Neubau, ohne dabei die Symmetrie des Komplexes zu stören. Kletterpflanzen ranken sich an Stahlseilen zu den Glaselementen im Dach. Funktional trennt diese «rue jardin» den öffentlichen Bereich von jenem der Parlamentarier, wo fünf kleine Sitzungssäle untergebracht sind. Zwei Einschnitte mit Vertikalerschliessungen flankieren die Kuppel symmetrisch. Trotz ihrer Eichenholzverkleidung ist sie wie ein Monolith in den Glaskörper geklemmt. – Die komplexe Wegführung für die verschiedenen Benutzergruppen gewinnt durch die grosszügig bemessenen Zirkulationsräume an Übersicht. In der Überlagerung der Wegbereiche für die verschiedenen Benutzer werden Piranesis «Carceri» – ihrer düsteren Stimmung entledigt – Wirklichkeit. Als Aufenthaltsbereich dient der um den Plenarsaal fliessende, von natürlichem Licht erfüllte Bereich. Dort ermöglichen tulpenförmige Sitzgruppen von Avant-Travaux, die wie Blumen auf freiem Feld verstreut sind, den Gedankenaustausch. Im Inneren des ovalen Plenarsaals selbst schaffen das gleichmässig durch die rundum laufenden Milchglaslamellen einfallende Licht und die unzähligen Lämpchen auf den nach akustischen Kriterien wellenförmig gestalteten Deckenstreifen eine ruhige Beleuchtung. Unter der Parlamentskuppel finden bis zu 750 Abgeordnete im Saal und mehr als 600 Zuschauer auf den oberen Rängen Platz. Hier wird deutlich, wie sehr das Thema der Politik als Spektakel den als Bühne der Demokratie gedachten Bau durchzieht.

Der spielerische Umgang mit geometrischen Formen und Körpern ist typisch für Architecture Studio; in Strassburg thematisierten die Architekten Kreis und Ellipse als Sinnbilder der abendländischen Kultur. Steht der Kreis für das Perfekte, so verweist die Ellipse, auch etymologisch, auf das Mangelhafte. Mit der Überschneidung beider Formen wollte das Architektenteam der Dialektik von Zentralmacht und bewegter Demokratie im Parlamentsgebäude symbolisch Ausdruck verleihen. Während dem kreisförmigen Büroturm ein Oval eingeschrieben ist, sind die Parlamentariersitze kreisförmig unter der elliptischen Kuppel des Plenarsaales angeordnet.

Urbanistische Aspekte

Die Frage der Massstäblichkeit, wie sie aus dem Bauprogramm erwächst, bildete einen Kernpunkt der urbanistischen Aufgabenstellung. Während im Inneren des IPE 4 die «Polis» Europas unter einem Dach bar jeglicher Monumentalität auf den Menschen zugeschnitten ist, erscheinen die beiden Bauvolumen von aussen in ihrer Morphologie und der Anonymität der die Umgebung spiegelnden Glashaut massstabslos. Darüber kann auch das Aufbrechen der einzelnen Gebäudeschichten im Büroturm nicht hinwegtäuschen. Obwohl Martin Robain, einer der sieben Partner von Architecture Studio, betont, dass «die wahre Revolution der Informatik auf der Baustelle geschieht», tritt der architektonische Ausdruck einer informatisierten Ästhetik zutage. Doch nur dank der computerisierten Einzelanfertigung der meisten Bauelemente konnte der gesamthaft knapp drei Milliarden Francs teure Bau in nur vier Jahren entstehen. Die Architekten fanden hier zu einer wahren Meisterschaft darin, wie man eine Baustelle führt.

Die heiter anmutende Inschrift auf Bruno Tauts Glashaus von 1914 – «Ohne einen Glaspalast ist das Leben eine Last» – findet hier zum zweitenmal eine zeitgenössische Interpretation in Strassburg, wurde doch kürzlich erst Adrien Fainsilbers Musée d'art moderne et contemporain eröffnet (NZZ 11. 11. 98). Im kommenden Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im neuen Gebäude abhalten. Bleibt das Pulsieren des Politspektakels tagsüber von aussen auch verborgen, werden doch die unzähligen Lämpchen in der Holzkuppel, die auf die Hitze der parlamentarischen Diskussionen reagieren, den nächtlichen Himmel der elsässischen Europa-Metropole lebendig erhellen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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