Bauwerk

Bibliothek Cottbus, IKMZ BTU
Herzog & de Meuron - Cottbus (D) - 2005
Bibliothek Cottbus, IKMZ BTU, Foto: Margherita Spiluttini
Bibliothek Cottbus, IKMZ BTU, Foto: Margherita Spiluttini

Insel im Datenstrom

Die Bibliothek als Medienzentrum - ein Neubau von Herzog & de Meuron in Cottbus

Statt wie früher mit strengen Geometrien zu arbeiten, erkunden die Basler Architekten Herzog & de Meuron heute vermehrt die organische Form. Im ostdeutschen Cottbus kann heute Montag ihr Informations-, Kommunikations- und Medienzentrum (IKMZ) der Brandenburgischen Technischen Universität eröffnet werden.

13. Dezember 2004 - Ursula Seibold-Bultmann
Der Weg nach Cottbus führt durch eine endlose Ebene, wo alles Sichtbare unvermittelt aufeinander stösst; einsam stehen Birkenstämme vor Kiefernwäldern, und Krähenschwärme fliegen in hartem Licht. Erst am Rande der Stadt ändert sich das Bild. Hier, in Branitz, schuf Hermann Fürst von Pückler-Muskau ab 1844 einen Landschaftspark mit schwingend pittoresken Konturen. Durch das soeben vollendete Informations-, Kommunikations- und Medienzentrum (IKMZ) von Herzog & de Meuron kann man sich an beide Natureindrücke erinnern lassen: Scharfe Kontraste bestimmen das Erscheinungsbild des Baus ebenso wie ausgeprägt malerische Elemente. Im Gebäudeinnern etwa spiegelt sich das in Parallelstreifen gelegte heftige Gelb, Hellgrün, Magenta, Zinnober und Dunkelblau der Kautschuk-Bodenbeläge in den Decken aus Streckmetall und in den silbrigen Türen der Lifts; so entstehen Seen aus Farbe, die sich bei jeder Bewegung des Betrachters ausdehnen oder zusammenziehen, um sich schliesslich in nichts aufzulösen.

Kühle Buchstaben

Die Bauaufgabe verfremdet landschaftliche Bezüge und macht sie zugleich aktuell. Im Kern handelt es sich beim IKMZ um eine Universitätsbibliothek, deren technische Ausstattung neuesten Anforderungen gerecht werden soll und der deshalb gleichrangig drei weitere Bereiche angegliedert sind: das Universitätsrechenzentrum, ein Kompetenzknotenpunkt für neue Medien sowie die Verwaltungsdatenverarbeitung der Universität. In dieser von Zugangskanälen und Datenhighways durchzogenen Arbeits- und Informationsumgebung mit rund 600 vernetzten Lese-, Lern- und Katalogplätzen sind Notebook, Wireless und WAP-Handy ebenso zu Hause wie Bücher und Zeitschriften. Die meisten davon haben knallbunte Einbände, da die in Cottbus angebotenen Studienrichtungen in erster Linie technisch-naturwissenschaftlich ausgerichtet sind und kaum graue Altbestände mit sich bringen.

Von aussen präsentiert sich das IKMZ, das dem 1969 errichteten Hauptgebäude der Universität mit seinem orangeblauen sozialistischen Fassadenfresko direkt gegenüberliegt, bei einer Gesamthöhe von 32 Metern als schimmernde Grisaille. Der fliessend gekurvte Grundriss mit vier unterschiedlich grossen Ausbuchtungen lässt zunächst an eine Amöbe oder an die Standfläche einer Vase von Alvar Aalto denken. Er erwuchs aber vor allem aus urbanistischen Überlegungen. Einladend öffnet sich die Form nach Westen zum übrigen Universitätsgelände - wenn auch diese Geste darunter leidet, dass der Bau durch die gefährliche Karl-Marx-Strasse vom Campus abgeschnitten ist und hier nichts zur nötigen Verkehrsberuhigung geschieht. Kommt man von Süden aus dem Stadtzentrum, wirkt das IKMZ wie ein turmartiges Wegzeichen. Nach Norden hin schwillt die Bauform zu zwei stabilen Bastionen an; einzig im Osten nimmt sie Energie in sich zurück. Die bedruckte gläserne Aussenhaut der zweischaligen Fassade spielt mit den ebenfalls bedruckten Glaspartien der inneren Gebäudehülle sowie mit deren glatten Betonteilen so zusammen, dass sich ein halbabstraktes Muster aus weissen Punkten ergibt. Dieses lässt Buchstaben aus verschiedenen Schriften der Welt anklingen und erinnert gleichzeitig von weitem an Raureif oder Eisblumen.

Betritt man das Gebäude, taut diese Motivkette gleichsam auf. Beim Blick von innen nach aussen wird das Punktmuster auf der Fassade zum Regenschleier - ein Eindruck, der sich verstärken wird, sobald der von der Landschaftsarchitektin Gisela Altmann (Cottbus) in Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron geplante kleine Park um das IKMZ fertig angelegt ist. Zugleich erinnert uns der Blick durch den gepunkteten Raster daran, dass Bücher ebenso wie neue Medien die Welt stets nur indirekt vermitteln: Bei dieser Brechung des Augenscheins verbünden sich Buchstaben mit Pixeln. Trotzdem wird sich hier niemand in Alphabeten oder virtuellen Bildwelten verlieren. Denn der Farbklang im Gebäudeinnern dürfte jeden Träumer ähnlich wie ein unsanftes akustisches Wecksignal treffen. Die Maximalkontraste des Bodenbelags zwischen Primär- und Sekundärfarben, die sich auf den Deckenstützen fortsetzen, werden dabei von weissen Wänden und dem weissen Schleiflack der Ausleih- und Informationstheken zurückgeworfen.

Da jede der neun Bodenplatten des Gebäudes anders geschnitten ist und sich dadurch von Ebene zu Ebene in Höhe wie Fläche vollkommen unterschiedliche Raumsituationen ergeben, orientiert man sich in erster Linie an drei starken Vertikalakzenten, die durch alle Stockwerke reichen: einem grünen und einem magentafarbenen Service-Kern auf kreisrundem Grundriss sowie einer Wendeltreppe mit massiver Brüstung, die - von oben betrachtet - zu einem psychedelisch anmutenden Farbwirbel mutiert. Zahlreiche spiralförmige Kronleuchter in hohen Raumabschnitten geben dem Interieur eine noble Note selbst dort, wo grauer Nadelfilz die am Rand angesiedelten Lesebereiche abtönt.

Die Kosten für den Neubau und die Landschaftsarchitektur betrugen rund 29 Millionen Euro. Während der langen Planungsgeschichte wurde die Konzeption des Gebäudes dabei mehrfach einschneidend verändert. Zum Wettbewerb von 1993 hatten Herzog & de Meuron noch Pläne für einen quaderförmigen Bau mit drei hochragenden rechteckigen Lichtschächten eingereicht. Die vom Bauherrn geforderte Verringerung der Hauptnutzfläche führte 1998/99 zur kompletten Neuplanung. Weitere Finanzengpässe hatten zur Folge, dass im jetzigen Bau eine als fünfte Geschossebene geplante Galerie ebenso wegfiel wie ein runder Lichthof in den obersten beiden Stockwerken und dass eines der beiden Untergeschosse sich heute statt in der Baugrube unter einer Anschüttung verbirgt. Der Geldmangel zeigt sich mitunter aber auch im Detail.

Stachel der Utopie

Trotz allen Widrigkeiten haben die Hauptbeteiligten - in vorderster Reihe die Projektarchitektin Christine Binswanger von Herzog & de Meuron sowie die Bibliotheksdirektorin Annette Warnatz - Bahnbrechendes geleistet. Durch das IKMZ wird der Bautyp Bibliothek formal und symbolisch neu definiert. Mit dem fast uneingeschränkten Vorherrschen visueller Reize über taktile Qualitäten und mit der Gegenläufigkeit zwischen äusserer Hülle und innerem Kolorit spiegelt der Bau Züge der multimedialen Gegenwart. Gleichzeitig setzt er dem zentralen psychologischen und intellektuellen Problem des digitalen Zeitalters - der Zerstreuung - eine zielgenau berechnete Spannung zwischen Lakonik und Überschwang sowie das Gewicht seiner Naturmetaphern entgegen. So wird das IKMZ zweifellos dem gerecht, was der Philosoph Karsten Harries in seinem Buch «The Ethical Function of Architecture» (1998) fordert: «Die Baukunst muss das Utopische zumindest stückweise erhalten.» Notwendigerweise, so fügt er hinzu, hinterlasse jedes in diesem Sinne gelungene Werk im Betrachter gleich einem Stachel den Wunsch nach einer besseren Welt.

[ Technische Angaben zum Bau findet man in der Zeitschrift «Bibliothek. Forschung und Praxis» (Bd. 27, 2003, Nr. 1/2, S. 69-71) sowie im Internet (www.ub.tu-cottbus.de/ikmz). ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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