Bauwerk

Cité Manifeste - Bauteil Lacaton & Vassal
Lacaton & Vassal - Mulhouse (F) - 2004

Lofts im sozialen Wohnbau

Die französischen Architekten Anne Lacaton & Jean-Philippe Vassal haben in Mulhouse mit vorgefertigten Gewächshäusern den Geist einer Arbeitersiedlung aktualisiert.

12. März 2005 - Axel Simon
Vor 150 Jahren gründete sich im Zuge des industriellen Aufschwungs in Mulhouse die Somco. Die Gesellschaft hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die untragbaren Wohnbedingungen der Arbeiter zu verbessern und errichtete 1853 die Cité Manifeste, die erste Arbeitersiedlung Frankreichs. Heute gibt es fast keine Industrie mehr in Mulhouse, und die über 1200 Arbeiterwohnungen genügen heutigen Ansprüchen nicht mehr, viele stehen leer. Die Häuser der historischen Siedlung bieten einen abenteuerlichen Anblick: Jede Wohnung ist im Laufe der Zeit anders erweitert, aufgestockt und überformt worden.

Unmittelbar daneben macht nun die Somco anlässlich ihres Jubiläums einen mutigen Schritt, um der geänderten Bewohnerstruktur gerecht zu werden: Sie besinnt sich auf den innovativen Geist ihrer Anfänge, stellt die strengen Regeln des sozialen Wohnungsbaus infrage und lässt anspruchsvolle Architekten qualitativ hochwertige Reihenhäuser mit Garten errichten - für das gleiche Budget wie herkömmliche Sozialwohnungen.

Die Gesellschaft beauftragte Jean Nouvel mit der Entwicklung eines Masterplans für ein ehemaliges Fabriksareal. Nouvel lud vier junge Architektenteams ein, mit ihm zusammen rund 60 Wohnungen zu entwerfen. Jedem Team stand ein annähernd gleich großes Grundstück zur Verfügung, alle Architekten wählten einen mehr oder weniger traditionellen Reihenhaustyp mit Wohnungen zwischen zwei und fünf Zimmern und direktem Zugang von außen. Nun, kurz vor Fertigstellung, enttäuschen die meisten Häuser mit einem allzu bildhaften Bezug auf ihre historischen Vorgänger und ihren kunterbunten Zustand: Dächer, die sich einmal nach oben, einmal nach unten neigen, oder ein Obergeschoß in Form einer Reihe bunter „Hütten“. Nouvels Wohnhaus erinnert an die industriellen Hallen, die vorher auf dem Grundstück standen.

Der fraglos interessanteste Teil des neuen Quartiers ist derjenige der Pariser Anne Lacaton & Jean Philippe Vassal, in Wien bekannt durch ihr Café Una im Museumsquartier. Ihr Credo „Viel Wohnraum für wenig Geld“, das sie bisher nur bei Einfamilien- und Ferienhäusern erproben konnten, haben sie hier zum ersten Mal im sozialen Wohnungsbau umgesetzt. Bereits seit über zehn Jahren experimentieren die beiden Franzosen mit billig erstellten Leichtbauhäusern, die zur Hälfte aus unbeheizten Wintergärten bestehen. Bisheriger Höhepunkt ist ihr Haus in Coutras: Sie stellten zwei identische Industriegewächshäuser Seite an Seite auf eine Wiese, bauten in die eine Hälfte einige beheizte Räume, die andere ließen sie als Wintergarten, wie sie war - 300 m² Wohnfläche für unter 65.000 Euro.

Dieses Haus wurde zum Modell für ihren Siedlungsteil in Mulhouse. Dort bilden drei Reihen Gewächshäuser das lichte Obergeschoß der Anlage, das auf einem aus Betonfertigteilen erstellten drei Meter hohen Erdgeschoß ruht. Im Innern trennen Leichtbauwände die 14 Wohnungen voneinander, und die beheizten Räume im Gewächshaus erhalten eine Decke. Sämtliche Wohnungen reichen über die gesamte Bautiefe von zwanzig Metern und verfügen über zwei unterschiedlich große Wohnebenen: eine kleine Fläche im Obergeschoß und eine große im Erdgeschoß oder umgekehrt. Lacaton & Vassal sind hier ihrer Prämisse einmal mehr gerecht geworden: weiträumiger, offener, heller und vor allem kostengünstiger zu bauen als üblich. Ihre kleinste Zweizimmerwohnung ist stolze 102 Quadratmeter groß, die größte mit vier Zimmern 187 Quadratmeter - statt der 80 Quadratmeter einer herkömmlichen Sozialwohnung dieses Typs. Der Wintergarten hat mit 47 Quadratmetern die gleiche Größe wie eine ganze Wohnung der historischen Cité Manifeste.

Von Zwei-, Drei- oder Fünfzimmerwohnungen zu reden erweist sich bei den offenen Grundrissen jedoch als schwierig, und auch bei der Anwendung der sonstigen Normen stießen die französischen Behörden hier an Grenzen. Die einzigen Räume mit Türen sind die kleinen Badezimmer und WCs sowie die Garagen, die allerdings vom Wohnraum nur mit einer gewellten Plastikwand getrennt sind und den Wohnungen als Eingangsraum dienen. Nicht nur dadurch wird die Wohnung zum Loft. Auch ihre „armen“ Materialien und die - sagen wir es wohlwollend - legere Bauausführung verbreiten den Charme einer Werkstatt: Die Bauteile aus Beton sind unverkleidet, die kräftigen Stützen stehen im Wohnraum, ebenso die rohen Stahlwendeltreppen. In mancher Wohnung befinden sich Badewanne oder Dusche offen in der Raumecke, im Garagen-Entree hängen Gastherme und Sicherungskasten an der Wand. Die vertikalen Stoffstores der Wintergärten oder die speziellen Vorhänge, die im Wohnraum vor zu starkem Kälteeinfall im Winter oder Hitze im Sommer schützen sollen, mildern diese Rohbauatmosphäre nur wenig.

Eine sehr unkonventionelle Art zu wohnen lässt sich in diesen Räumen vorstellen: wenige Möbel, Teppiche lässig auf dem fleckigen Betonestrich verteilt, manche Ecke bei Bedarf mit einem Vorhang abgetrennt, die Küche steht mitten im Raum - aber Sozialwohnungen? Doch genau die Robustheit der Räume von Lacaton & Vassal wird eine Aneignung auch durch weniger hippe Bewohner ermöglichen. Sicherlich wird hier mancher Bastler neue Wände einziehen, Böden verlegen, Decken abhängen und sich mit Inbrunst seine Gute Stube hineinbauen. Wie bei der benachbarten Cité Manifeste wird mit dem Bezug bald das Eigenleben jeder Wohnung beginnen und dafür gibt es hier Raum, viel Raum.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Somco