Bauwerk

Weihnachtsbeleuchtung Bahnhofstrasse Zürich
Gramazio & Kohler - Zürich (CH) - 2005
Weihnachtsbeleuchtung Bahnhofstrasse Zürich, Foto: Roger Frei
Weihnachtsbeleuchtung Bahnhofstrasse Zürich, Foto: Roger Frei

Im Rhythmus der Stadt

Die ‹Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse› hat sich zum fünfzigsten Geburtstag eine neue Weihnachstbeleuchtung geschenkt. Lange haben die Architekten Gramazio & Kohler mit Spezialisten getüftelt, um bei ihren Lichtröhren Technik, Stabilität und Lichtdurchlässigkeit zu synchronisieren.

20. November 2005 - Roderick Hönig
Im Winter 1970 konnten Willi Walter und Charlotte Schmid ihr Meisterwerk über der Bahnhofstrasse in Zürich einweihen. Die vertikal hängenden, mit einfachen 12-Watt-Glühbirnen bestückten Lichterketten lösten plumpe Sterne und traditionelle Konturbeleuchtung ab. Doch nicht nur radikal abstrakt war der Entwurf, sondern auch poetisch: Die Kabel der Low-Tech-Anlage drehten sich sachte im Wind und vermittelten so das Gefühl, sie würden an- und ausgehen. Der unberechenbare Faktor Wind war es, der den geometrisch-abstrakten Lichtraum zu einer sinnlichen Skulptur machte. Im internationalen Wettbewerb vor zwei Jahren stachen Fabio Gramazio und Matthias Kohler mit ‹The World’s Largest Timepiece› ihre zehn Konkurrenten aus. Die zur Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse zusammengeschlossenen Ladenbesitzer und -betreiber waren begeistert, denn die High-Tech-Leuchtstäbe der jungen Zürcher Architekten erfüllten alle Prämissen: Sie erinnern nicht an die alte Weihnachtsbeleuchtung, nutzen die Möglichkeiten neuster (und damit langlebiger und unterhaltsarmer) Leuchtmittel und sind individuell programmierbar. Seit dem Wettbewerb ist es zwei Jahre her, sind etliche Projektphasen vergangen und über ein Dutzend Prototypen entstanden. 275 Stäbe mit einer Länge von sieben Metern und einem Durchmesser von 15 Zentimetern hängen über die gesamte Länge von 1080 Metern in der Bahnhofstrasse. Der Abstand zwischen den Stäben beträgt rund vier Meter. Geändert gegenüber dem Wettbewerbsprojekt hat sich das Material und die Konstruktion der Leuchtröhren: Als eine im Schnitt quadratische Hülle aus Polycarbonat geplant, sind die Stäbe nun rund und bestehen aus siebzig Prozent Glasfasern und dreissig Prozent Epoxi-Harz. Die elegante Oberflächenstruktur ist sorgfältig gestaltet: Die Fasern sind nicht wie herkömmliche gewickelt, sondern rhombenartig übers Kreuz. Die Stäbe sind das Ergebnis einer aufwändigen interdisziplinären Teamarbeit: Lange haben die Architekten und die Projektpartnerin Industrial Micro Systems aus Winterthur mit dem Glasfaser-Produzenten Cowex daran getüftelt, das Lastprofil und das gewünschte Wickelmuster sowie eine grosse Lichtdurchlässigkeit unter einen Hut zu bringen. Das Resultat: Die Fasern sorgen trotz einer Wandstärke von nur 1,2 bis 1,9 Millimeter für genügend Stabilität und Lichtdurchlässigkeit – und das bei einem Gewicht von nur rund dreissig Kilogramm (inkl. Innenleben) pro Stab. Auch das Statikproblem ist elegant gelöst: Das sieben Meter lange Rohr trägt sich selbst, was den Vorteil hat, dass keine Tragkonstruktion von Innen ihren Schatten auf den transluzenten Fiberglas-Mantel wirft. Der Effekt: Die Hülle selbst scheint zu leuchten.

Temperaturbeständig und störungssicher

Dem Diodenträger und der Steuerungselektronik im Kopf sieht man die intensive Entwicklungsarbeit nicht an: Rund um ein Aluminium-Rohr sind 32 Lichtelemente auf federleichten Folien (mit je 28 LED-Leuchten) über die gesamte Länge geklebt. Dass Blitze, die im Winter zwischen Stromabnehmer und Tramleitung entstehen, die Steuerung nicht stören, ist die Koppelelektronik nicht mit Strom, sondern mit Licht gesteuert. So kann der Stab unabhängig von atmosphärischen elektromagnetischen Störungen bis zu 25 Mal pro Sekunde angesteuert werden – und das bei Temperaturen von Minus 45 bis zu Plus 80 Grad Celsius. Die Leuchtröhre wird oben und unten von einem Kopf- und Fussteil aus Aluminium abgeschlossen. Aufgrund des Gewichts und der Länge von sieben Metern ist auch das Seiltragwerk in der Bahnhofstrasse ein Neues: Ein Stahlseil, das jeweils zwischen die Fassaden gespannt ist, trägt oben und fixiert unten. Die runde Querschnittform des Rohrs hat nicht nur statische Vorteile, sondern kann auch Windlasten besser aufnehmen. Die ganze Aufhängung hat ein wenig Spiel, das macht ein minimales Pendeln möglich und verleiht den Stäben eine gewisse Leichtigkeit.

Das Einzelrohr braucht das Ensemble

Die 32 dynamisch dimmbaren Lichtelemente pro Stab machen – über die Länge von 1080 Metern gesehen – aus der Stabreihe eine Art Bildschirm mit insgesamt 8800 Pixel. Diese Zahl scheint hoch, doch die Auflösung ist viel kleiner als die eines Handydisplays. Dank des Sehwinkels des Betrachters auf der Strasse kann diese Leuchten-Matrix trotzdem als eine Art Bildträger bespielt werden. Denn der Passant sieht von der Strasse aus immer rund hundert Stäbe gleichzeitig. Das erhöht auch das subjektive Lichtvolumen. Wie kann dieser ‹Bildschirm› bespielt werden? Die Bilder, die Gramazio & Kohler entwickelten, sind abstrakt und das System bleibt offen. Ähnlich der alten Weihnachtsbeleuchtung bestimmt ein nicht terminierter Algorithmus die einzelnen Stimmungen und die Abfolge der Bilder, beispielsweise sanfte Lichtwogen. Zwei Parameter beeinflussen das System von aussen: Die Fussgängerdichte und das Datum. Sensoren messen die Passantenströme in der Bahnhofstrasse und geben ihre Daten an den Zentral-computer weiter. Die drei Messstationen reagieren aber nicht auf Einzelpersonen, sondern nur auf Bewegungen im Stadtmassstab, beispielsweise Menschenmassen am Sonntagsverkauf oder auf einen Umzug. Gleichzeitig ist die Anlage eine Art Weihnachtskalender, der sich mit den immer näher rückenden Festtagen ändert. Doch nicht – wie man es erwarten würde – steigern soll sich die Lichtintensität oder die Geschwindigkeit der Veränderungen gegen Weihnachten hin, sondern ruhige und gelassene Stimmungen wechseln sich ab.

Die neue Weihnachtsbeleuchtung inszeniert den prächtigen Zürcher Stadtraum elegant und bedient sich zeitge-mässer und – heute eine Selbstverständlichkeit – energiesparender Leuchtmittel, die noch einen Drittel des früheren Strom brauchen. Dies macht ‹The world’s largest Timepiece› einzigartig und vielleicht so beispielhaft wie die vorhergehende Weihnachtsbeleuchtung. Und: Wie beim Low-Tech-Vorgänger lässt auch das neue System den Zufall zu. Die Zeit und der Rhythmus der Stadt beeinflussen die Bilder und bringen eine poetische Unschärfe ins hochtechnisierte System.

[ Einweihung der neuen Weihnachtsbeleuchtung in der Bahnhofstrasse: 23. November 2005, 19 Uhr. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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