Bauwerk

Weihnachtsbeleuchtung Bahnhofstrasse Zürich
Gramazio & Kohler - Zürich (CH) - 2005
24. November 2005
mju. Ist die neue Weihnachtsbeleuchtung über der Zürcher Bahnhofstrasse tatsächlich eine Weihnachtsbeleuchtung? Oder ist es ein Kunstwerk, acht Meter über dem Boden schwebend und auch sonst etwas abgehoben? Die Adventszeit wird mit Samichläusen, farbigen Lichtlein und süsslicher Musik assoziiert. Die neue Beleuchtung verschliesst sich solchen Bildern und geht konsequent ihren eigenen Weg. Man kann sie sich als einen riesigen Bildschirm vorstellen, der in einzelne schmale Streifen geschnitten und über die Bahnhofstrasse gehängt worden ist. Doch auf dieser Leinwand heizen nicht herzige Bilder die Kauflust an. Weihnachten wird illustriert mit abstrakten Mustern, die sich langsam verändern. Sie wirken fast meditativ und fordern vom Betrachter das Kostbarste überhaupt - Zeit.

Technische Komplexität

An der alten Anlage bestach ihre Simplizität - die Tausenden von Glühbirnen, deren Spindel durch das klare Glas leuchtete und für deren Bewegung keine Steuerung, sondern der Wind zuständig war. Die neue Beleuchtung ist technisch viel komplexer. Ein Rechner erzeugt Bilder und Bildsequenzen. Diese werden über einen zweiten Computer auf die untereinander verkabelten Leuchtstangen verteilt. Die Anlage ist so leistungsfähig, dass 22 Bilder pro Sekunde übertragen werden könnten. Im Prinzip wäre es möglich, SMS-Nachrichten über die Bildschirme laufen zu lassen, sagt Architekt Matthias Kohler vom Zürcher Büro Gramazio & Kohler, welches die Beleuchtung entworfen hat. Doch mit dem Projekt gehe es um Abstrakteres, um die „Gestaltung des Lichtes in der Zeit“.

Dieses Ziel soll der etwas umständliche Name der Beleuchtung - „The World's Largest Timepiece“ - zum Ausdruck bringen. Die Bilder der „weltgrössten Uhr“ werden von einem Computerprogramm kreiert, das die Architekten selber geschrieben haben. Je näher die Festtage rücken, desto feingliedriger werden die Lichtmuster; sie erreichen ihren Höhepunkt an den Feiertagen. So wird die Beleuchtung zur „inneren Uhr der Stadt“, wie die beiden erklären. Auch die Besucherströme haben einen Einfluss auf die Muster. Drei Sensoren messen, wo wie viel los ist, worauf die Muster ändern.

Einweihung mit Sphärenklängen

Erstmals in Gang gesetzt worden ist die Anlage am Mittwochabend um 19 Uhr. Untermalt mit sphärischen Klängen von Boris Blank (Yello), wurde während gut zehn Minuten eine Bilderflut über die Lichtsäulen gejagt, die es in dieser Form nicht mehr zu sehen geben wird. Da fielen Schneeflocken aus dem Nichts, ein zopfartiges Muster tauchte auf und erinnerte an ein Seil, das irgendwo im See vertäut schien. Die Anlage ist mehr als die Summe ihrer Teile. Die Stäbe wirken am Tag unscheinbar und glimmen in der Nacht nur gerade. Aber auf den geraden Abschnitten der Bahnhofstrasse entwickeln sie dank ihrer Menge eine erstaunliche Raumwirkung. Die Muster werden, aufs Genauste koordiniert, von der einen Stange zur nächsten weitergegeben. Langsam verschwinden sie in der Ferne, man glaubt die Bahnhofstrasse ende nicht am See oder am Hauptbahnhof, sondern in der Unendlichkeit.

Die neue Beleuchtung schafft nicht einen geschlossenen Raum und damit einen eigenen, goldenen Himmel über der Bahnhofstrasse, wie das die alte Anlage tat. Sie bezieht dank der vertikalen Anordnung der Leuchtstäbe die Weite des Nachthimmel wieder mit ein. Gleichwohl betont Matthias Kohler, dass sie viel vom alten Entwurf gelernt hätten. So gefiel den beiden Architekten dessen Abstraktheit. Tatsächlich: Zwar haben viele Leute eine fast schon sentimentale Anhänglichkeit an die alte Beleuchtung entwickelt. Doch ihre Entwerfer machten vor über dreissig Jahren keinerlei Kompromisse, verwendeten beispielsweise keine bekannten Symbole wie etwa Sterne. Manche Leute, so Kohler, seien 1971 schockiert gewesen, kannten sie nackte Glühbirnen doch vor allem aus ihrem Kellerabteil.

Die Leuchtdioden verströmen nicht gelbliches, sondern weisses Licht, das kristallen und kälter ist. Der Vorteil des hellen Lichtes ist, dass es sich von der Beleuchtung abhebt, welche die Läden entlang der Bahnhofstrasse in Eigenregie aufhängen. Der Nachteil ist, dass es auf manche Betrachter kalt wirken dürfte - insbesondere dann, wenn ganz ruhige Muster über das Lichterband laufen.

Kunst und Technik

Die neue Anlage ist ein Prototyp, beteiligt an der technischen Umsetzung war die Firma ims (Industrial Micro Systems). Inhaber Albert Frei hat zwar bereits die Stadtzürcher Verkehrsampeln mit LED-bestückten Leuchtquellen ausgerüstet. Bei der neuen Weihnachtsbeleuchtung aber galt es, „künstlerische Anforderungen mit der technischen Realisierbarkeit“ in Einklang zu bringen, wie er sagt. Die Stäbe bestehen aus Glasfaser. Diese wird in Harz getränkt und maschinell zu Rohren gewickelt - nicht wild durcheinander wie Zuckerwatte, sondern in einem Rhombusmuster. Dieses Muster sorgt dafür, dass die leuchtenden Stäbe ihr Licht nicht gleichmässig abgeben, als wären sie überdimensionierte Neonröhren. In die Glasfaserröhren eingelassen ist ein Aluminiumrohr, auf dem die Leuchtdioden sitzen. Das Metallrohr dient auch der Wärmeabfuhr.

Die Beleuchtung ging im Jahr 2003 siegreich aus einem Wettbewerb hervor. Die Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse wollte die legendäre, 1971 erstmals eingeschaltete Beleuchtung von Charlotte Schmid, Willi Walter und Paul Leber aus verschiedenen Gründen ersetzen. Nicht nur wurde die Wartung des aus über 20 000 Glühlämpchen bestehenden Lichterbaldachins immer schwieriger. In der Zwischenzeit hatten die Geschäfte entlang der Bahnhofstrasse bei der Weihnachtsbeleuchtung aufgerüstet, was den Effekt des alten Weihnachtsschmucks schwächte.

„Es ist nicht einfach, den Zürchern ein Identifikationsobjekt aus dem Herzen zu reissen“, sagte Stadtpräsident Elmar Ledergerber am Mittwochabend zum Abschied von der alten Beleuchtung. „Aber geben Sie der neuen Beleuchtung eine Chance.“ Franz Türler, Präsident der Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse, gratulierte sich und den übrigen Mitgliedern gleich selber zum Mut, den sie mit dem Entscheid für das neue Lichterband hatten. Er sei sich aber sicher, dass die neue Weihnachtsbeleuchtung auf Begeisterung stossen werde. Das müssen nun die kommenden Wochen zeigen. Aber zumindest unseren Respekt hat die Anlage bereits jetzt verdient, weil sie neue Wege beschreitet, weil sie uns Weihnachten nicht als einen Kitschroman verkauft und weil sie uns nicht gleich beim ersten Blick einlullen will.

[ Die neue Weihnachtsbeleuchtung wird heute Abend an der Bahnhofstrasse mit einem Fest gefeiert (19 bis 22 Uhr). ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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