Bauwerk

„Möbius-Haus“
UNStudio - Het Gooi (NL) - 1998

Synthetischer Kubismus

Ben van Berkels programmatische Villa - das «Möbius-Haus»

Das neuste Wohnhaus von Ben van Berkel besitzt programmatischen Charakter. Der heute 41jährige Amsterdamer Architekt hat sich von der Idee des Möbius-Bandes anregen lassen. Obwohl das Gebäude zunächst labyrinthisch wirkt, weist es eine in sich geschlossene Struktur auf, die zu einer neuen Harmonie führt.

5. Februar 1999 - Hubertus Adam
Mathematischen Definitionen gemäss ist ein Möbius-Band - jener Streifen, dessen Enden, um 180 Grad verdreht, miteinander verbunden werden - eine Fläche, die nur eine Randkurve und eine Seite besitzt. Als Charakteristikum des Möbius-Bandes gilt die Nichtorientierbarkeit: Wo oben, wo unten, wo rechts, wo links, wo hinten, wo vorne ist: all das lässt sich nicht entscheiden. Das Prinzip des Möbius-Bandes in die Architektur zu übertragen bereitet Schwierigkeiten. Weil sie den Gesetzen der Schwerkraft unterliegen, können irdische Wesen sich in einer derartigen Figur nur schwer bewegen. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob konventionelle Wohnungen mit ihrer mehr oder weniger stereotypen Reihung rechteckiger Räume tatsächlich den menschlichen Bedürfnissen entsprechen?

Das Ehepaar, das den Amsterdamer Architekten Ben van Berkel mit dem Entwurf für ein Wohnhaus beauftragte, hatte zumindest andere Vorstellungen. Da beide Partner ihrer beruflichen Tätigkeit zu Hause nachgehen, bedeutet das Leben in den eigenen vier Wänden in diesem Fall nicht nur schlafen und entspannen, sondern auch arbeiten. So wünschten sie sich ein Haus, das genügend Freiraum für all diese Bedürfnisse böte; ein Haus, das die Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit des Lebens repräsentiere; ein Haus schliesslich, das den Rhythmus der Natur auch im Inneren spürbar werden lasse - befindet sich das Grundstück doch unweit von Amsterdam in einer waldigen Gegend.

Streifen von grauem Sichtbeton und grünlichem Glas schimmern - zumindest im Winter - durch das Astwerk der Bäume hindurch, wenn man sich dem Grundstück nähert. Die Aussenansichten des expressiv anmutenden Baukörpers - von Fassaden im engeren Sinne lässt sich kaum sprechen - geben allerdings wenig Aufschluss über das dem Gebäude zugrunde liegende Konzept, das auf den Prinzipien des Möbius-Bandes basiert: Endlosigkeit und Nichtorientierbarkeit. Van Berkel fügte zwei Raumfluchten so zusammen, dass sich im Inneren eine schleifenförmige Promenade ergibt, die sämtliche Räume berührt und die beiden Ebenen miteinander verbindet.

Falls man nicht mit dem Auto die im Zentrum des Hauptgeschosses gelegene Garage ansteuert, bietet sich ein unscheinbarer Zugangsweg an. Vom Tor aus führt der geschotterte, von zwei Plattenreihen eingefasste Pfad die Senke entlang einem Bachlauf hinunter zum versteckten Eingang, der sich unter den markanten kanzelartigen Vorsprüngen der Raumfluchten des Hauptgeschosses befindet. Eine schmale Treppe leitet vom Vestibül hinauf zur Wohnebene. Dort angekommen, gilt es, sich zu entscheiden. Nach hinten in das Arbeits- oder Schlafzimmer, geradeaus in den Wohnbereich oder seitlich die neuerliche Treppe hinauf in das obere Geschoss? Die Orthogonalität scheint ausgehebelt: Wände fliehen, knicken, hier aus Beton, dort aus Glas, Innen und Aussen scheinen zu verschmelzen.

Doch so labyrinthisch, wie das Raumgeflecht zunächst anmutet, ist es letztlich nicht, im Gegenteil: Schlaufenähnlich zieht sich die innere Promenade, zu der es keine Alternative gibt, durch das Haus, der Weg der Bewohner, ihre tägliche Laufbahn. Ein Diagramm van Berkels zeigt die Struktur des Hauses, projiziert auf das Zifferblatt einer Uhr, die man zugleich als Kompass verstehen kann. Wie anhand der Beischriften erkenntlich, fliessen die Nutzungen ineinander; keiner der Bereiche wurde seitens des Architekten eindeutig definiert, Ambiguität ist Programm, alles verändert sich unmerklich. Die Waschbecken wirken, als seien sie aus dem Bad in das Schlafzimmer verrutscht, Arbeitszonen besitzen wohnliche Qualität, und der Wohnbereich erweitert sich nahtlos zum Konferenzraum.

Von den beiden Arbeitszimmern, die wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse das Kraftfeld des Hauses zusammenhalten, dem Schlafbereich sowie den Kinderzimmern abgesehen, gibt es im «Möbius-Haus» kaum distinkte, abgetrennte Räume. Verkehrsflächen nehmen den grössten Teil der Grundfläche ein; wer das Haus besucht, wird unweigerlich einer Dynamik unterworfen, die Stillstand nahezu verbietet. Alles ist miteinander verknüpft, Raum wird um die vierte Dimension der Zeit erweitert. Nur konsequent, dass die ebenfalls von van Berkel entworfenen Schichtholzmöbel durchgängig auf Rollen gelagert sind. In Kontrast dazu treten statische Tische aus Beton, die unmittelbar mit dem konstruktiven Gerüst des Hauses verbunden sind, aus diesem hervorwachsen oder in dieses einmünden.

Es ist eine seltsame promenade architecturale, die das Haus durchzieht. Es ergeben sich optische Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen des Gebäudes und Ausblicke auf den von Adriaan Geuze vom Team West 8 gestalteten Garten. Doch all das wirkt eher beiläufig; die Fenster fungieren als Öffnungen, nicht als Rahmen. Ben van Berkel inszeniert keine Perspektiven, durch die sich Welt erschliesst, er bedient sich auch keiner Dramaturgie, die den Parcours in eine Abfolge von Stationen verwandelte. Die hybride Struktur des Hauses generiert ihre eigene Raumlogik und erweist sich als selbstreferentiell.

Mit seinen Bauten, die in den achtziger Jahren zunächst vor allem in Amersfoort entstanden, konnte sich der 1957 in Utrecht geborene Ben van Berkel als einer der bedeutendsten Exponenten der zeitgenössischen niederländischen Architektur etablieren. Anders als Rem Koolhaas, der in seinen Werken vielfach Elemente collagiert, die dem funktionalistisch-konstruktivistischen Erbe der Moderne entstammen, steht van Berkel eher in einer expressiven Tradition. Schon in der Vergangenheit verwahrte er sich indes davor, als dekonstruktivistischer Architekt verstanden zu werden.

Auch wenn die polygonal gebrochenen Flächen seiner Fassaden, die pfeilartig vorstossenden Betonelemente zunächst an Projekte von Zaha Hadid erinnern, geht es dem Niederländer nicht um Zersplitterung oder Fragmentierung. Am ehesten erinnert van Berkels Konzept an den synthetischen Kubismus, bei dem die ausserbildlichen Verweise, welche die Bilder der analytischen Phase geprägt hatten, zugunsten einer bildimmanenten Harmonie heterogener Formen suspendiert worden waren. In diesem Sinne sucht Ben van Berkel nicht nach der Fragmentierung des Bestehenden, zerlegt nicht die Wirklichkeit in ihre Bestandteile, sondern forscht nach einer neuen Struktur, die Vielheit in Einheit überführt - nach einer neuen Harmonie. Keines seiner Gebäude zeigt das so deutlich und überzeugend wie das «Möbius-Haus». Man kann es als ein architektonisches Manifest verstehen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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