Bauwerk

Rathaus und Bauamt - Erweiterung
Richard Dünser, Erich G. Steinmayr - Lustenau (A) - 1996
Rathaus und Bauamt - Erweiterung, Foto: Margherita Spiluttini

Haus mit Kopf und Schwanz

Erich G. Steinmayr hat dem Lustenauer Rathauskomplex einen Neubau angefügt. Einen Neubau, der trotz seiner „dienenden“ Haltung gegenüber dem Bestand seine eigene, zeitgemäße Identität behaupten kann.

10. August 1996 - Liesbeth Waechter-Böhm
In der Architektur ist Anpassung in der Regel keine Haltung, die zu einem nennenswerten Ergebnis führt. Man weiß es von den verschiedenen Schutzzonen her: Anpassung erzeugt schwache architektonische Resultate. Daher hat sich für Erich G. Steinmayr die Frage der Anpassung auch niemals gestellt. Die Frage mußte vielmehr lauten, ob der bemerkenswerte Lustenauer Rathauskomplex vom Ende der fünfziger Jahre eine architektonische Intervention überhaupt zuläßt - und wenn, an welcher Stelle eine solche ansetzen könnte.

Unter den Vorarlberger Architekten galt dieses Problem ursprünglich als unlösbar. Aber die sachliche Bestandsanalyse brachte es an den Tag: Es gab einen Gebäudeteil mit Hausmeisterwohnung, Kohlenlager und Polizeigaragen, der zwar strukturell in Ordnung, aber letztlich ohne Schwächung des Altbaus verzichtbar war. Genau diesen Teil brach Steinmayr ab und setzte seinen Neubau an die Stelle. Und zwar unter maximaler Rücksichtnahme auf die bestehenden Vorgaben: Das heißt, das neue Haus respektiert die Maßstäblichkeit und hierarchische Gliederung des alten Baus, es ist nicht höher, es führt sogar die Geometrie der Dachform weiter, es stößt ganz selbstverständlich an eine Mauerscheibe des Bestands. Dabei führt es seine Andersartigkeit so unverkennbar vor, daß Zweifel über sein Entstehungsdatum gar nicht aufkommen können. Aber das Resultat solcher Eindeutigkeit ist nicht eine Verunklärung des Gesamtkomplexes, sondern eher seine Aufladung mit neuer Hochspannungsenergie.

Um aber das geforderte Raumprogramm unter diesen Umständen überhaupt unterzubringen, mußte Steinmayr ein zusätzliches Geschoß schaffen. Und das ist ihm letztlich gelungen, indem er nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe gebaut hat: An der Ostseite, zur Straße hin, wo es über eine Brücke ebenerdig in den Neubau hineingeht, wurde das Terrain um etwa drei Meter abgesenkt. In diesem Untergeschoß, dem ein besonders reizvoll angelegter Grünbereich vorgeschoben wurde, sind zwei große Konferenzräume, der Seminarbereich und - vorläufig noch als räumliche Reserve -Computerarbeitsplätze untergebracht. Im Erdgeschoß hat das Tiefbauamt seine Büros, im Obergeschoß das Hochbauamt.

Die innenräumliche Struktur des Gebäudes stellt sich sehr minimiert dar, einfach und ökonomisch, wiewohl sich das Haus den Luxus der Einhüftigkeit leistet. Alle Erschließungsgänge liegen an der Westseite zum Garten hin, die Büros sind nach Osten, zur Straße hin, orientiert; hier zeichnet sich mit einem schießschartenartigen Fassadenteil auch die Lage des Archivs ab. Die Fassade - sichtbar verschraubte Aluminiumplatten, die mit Eisenglimmer beschichtet sind, Glas und simple LKW-Bretter aus Aluminium als Beschattungslamellen - gibt sich betont schlicht, dabei elegant. Trotz seiner „dienenden“ Haltung gegenüber dem Bestand kann der Neubau seine eigene und sehr zeitgemäße Identität behaupten.

Von der Straße her sieht man zunächst nur ein relativ niedriges, langgestrecktes Gebäude, einen deutlich definierten Eingang mit elegantem Vordach, zu dem man über eine Brücke gelangt, große Fensterflächen und rechts über dem Eingang das signifikante, schießschartenartig formulierte Fassadenelement vor dem Archiv. Wenn man auf den Eingang zugeht, sieht man auch hinunter in den „Graben“ - einen bepflanzten Gartenhof -, der als Freiraumschicht dem Untergeschoß vorgeschoben ist.

Diese Entscheidung, nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe zu bauen, ist von wesentlicher Bedeutung für das gesamte Projekt. Außerdem ist der Gartenhof in drei Metern Tiefe ein besonderes Element: Eine Betonwand muß zwar erst zuwachsen, aber die Wirkung der sehr abstrakten, artifiziellen Lösung unten - mit schmalen, rechteckigen Wasserwannen und ebenso geschnittenen Buchsbaumpflanzungen - teilt sich auch jetzt schon mit. Wenn man das Haus betritt, kommt man zunächst in eine lichtdurchflutete, sehr offene Empfangszone mit Arbeitsplätzen für zwei Sekretärinnen.

Von hier geht es über einen Erschließungsgang entlang der Westfassade ebenerdig zu den Büros des Tiefbauamtes weiter, über eine Treppe hinunter ins Untergeschoß beziehungsweise hinauf zu Hochbauamt und ArchivDie Struktur ist also ganz einfach. Daß das Archiv hinter einer so besonderen Fassade situiert wurde, hat mit der Anforderung zu tun, daß es in einem Tageslichtraum untergebracht werden und doch beschattet sein sollte. Auch an der Westfassade sorgt ein Lamellenraster aus Aluminiumbrettern für die nötige Beschattung. Und am „Schwanz“ des Gebäudes im Süden, der wie ein Kasten ein wenig über dem Boden schwebt und damit ein Motiv des Altbaus aufnimmt, sorgt ein genau berechneter Rahmen für den erforderlichen Sonnenschutz der verglasten Besprechungsräume.

Für Schatten und damit ein angenehmes Raumklima wurden also die erforderlichen Vorkehrungen getroffen. Und doch: Eine Stunde am Tag fällt in verschiedenen Bereichen - in den Korridoren, im Archiv - die Sonne direkt ein, und es kommt zu jenem Phänomen, das Steinmayr „Lichtgraphik“ nennt. Die Sonne kommt, sie verschwindet wieder, für kurze Zeit erweckt sie das Gebäude an verschiedenen Stellen zum Leben. Schatten, so Steinmayr, mag eine Qualität sein, aber auch Sonnenlicht gehört in ein Haus.

Apropos Sonnenlicht: Die Lichtführung im Gebäude kommt einer minuziösen Komposition gleich. So liegen in den Erschließungsbereichen im Erdgeschoß und im Obergeschoß durchscheinende Glasplatten auf Gitterrosten. Dadurch entsteht zwar überall der Eindruck einer geschlossenen Decke, gleichzeitig verteilt sich aber das Tageslicht gleichmäßig von oben bis in das Untergeschoß. Und das Kunstlicht ist im Bereich der Stiege in den Handlauf integriert; man schaltet also bei Dunkelheit die Beleuchtung des Handlaufs im Geschoß oberhalb ein, und das Licht verteilt sich über die Decke.

Auch in den Büros sorgt indirektes, gleichmäßig verteiltes Kunstlicht für ausgezeichnete Arbeitsbedingungen. Und drei verschiedene Abschattungsmöglichkeiten - eine außen, eine innen und zusätzlich eine, die man im Computerbereich hochziehen kann - erlauben die Differenzierung der Tagesbelichtung.

Man könnte sagen, daß das Gebäude einen Kopf-, einen Mittel- und einen Schwanzteil besitzt und daß jedem dieser Bereiche spezielle Aufgaben und damit eine eigene atmosphärische Charakteristik zugeordnet wurden. Die unterschiedliche Art der Nutzung bildet sich in feinen Differenzierungen, unterspielt, aber doch lesbar, auch nach außen ab. Vordergründigkeit hat sich Steinmayr aber gerade an der Fassade in keiner Weise gestattet. Zur Straße hin gibt sich die Gebäudehaut zwar unerhört perfekt und auch ein wenig technoid - als wollte sie verständlich machen, daß dahinter eine konstruktiv ganz andere Technologie steckt als bei dem Bau der fünfziger Jahre. Und an der Gartenseite geben die Abschattungslamellen vor der Glasfassade einen gewissen Takt vor, der eigentliche Rhythmus dieses bewegten Fassadenbildes entsteht aber durch die unterschiedlichen Reflexionen der grünen Umgebung im Glas.

Steinmayr hat mit Fritz Mascher vor Jahren das Gutachterverfahren gewonnen, bei dem es um Erweiterung und Sanierung der Albertina ging. Seinem bemerkenswerten Projekt, man weiß es leider, war bisher wenig Glück beschieden. Das scheint sich in diesen Tagen zu ändern, die Realisierung einer ersten, wesentlichen Bauetappe steht unmittelbar bevor. Man kann diesem wichtigen Kulturbau in der Bundeshauptstadt höchst gelassen, ja zuversichtlich, entgegenblicken: Denn der Rathauszubau in Lustenau zeigt deutlich, daß hier jemand am Werk ist, der die Gratwanderung zwischen der Referenz vor dem historischen Baubestand und einer dezidiert zeitgenössischen technischen Lösung gepaart mit ebensolcher Materialqualität und Formensprache souverän beherrscht.

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