Bauwerk

Café Blaustern
Ganahl Ifsits Architekten - Wien (A) - 1996
Café Blaustern, Foto: Rupert Steiner

Warte für eine Stadtbeschau

Hektischer Verkehr kennzeichnet den Übergang vom neunten zum 19. Wiener Gemeindebezirk. Dort, wo ehedem das Café Grillparzer beheimatet war, haben Ifsits, Ganahl und Larch einen alten Standort wiederbelebt: „Blaustern“ - ein weltoffenes Wiener Wohnzimmer.

13. Juli 1996 - Walter Chramosta
Die Zeiten, da eine Hochschule in Wien sich noch für den Welthandel schlechthin zuständig nennen konnte und ihren Raumbedarf mit ernsterer Architektur aus-drücken wollte, liegen lange zurück. Carl Appel vollendete 1957 sein schlicht gestaltetes, heute wieder angenehm berührendes Auditorium maximum für die Welthändler. Die achtziger Jahre bescherten der Grenzregion zwischen neuntem und 19. Wiener Gemeindebezirk dagegen Zeichen latenter Provinzialität: die plump-biedere Wirtschaftsuniversität, das tatmotivstrotzende Polizeihauptquartier, das rohzuckerübergossene Fernheizwerk - zusammen schlechthin das Bermudadreieck der Wiener Stadtentwicklung im Bann von Otto Wagners Stadtbahnsystem.

Damit ist das Spektrum baulicher Sensationen in dieser Schlüsselzone der mentalen Landkarte Wiens abgesteckt: Am Übergang vom Alsergrund nach Döbling treffen schroffe Gegensätze aufeinander, verbinden sich zu einem nicht reizarmen Raumamalgam. Otto Wagners Brücke über die Nußdorfer Straße ist eine markante Torsituation und macht diese frequentierte Gürtelkreuzung zu einem Orientierungspunkt auf dem Weg vom Stadtzentrum in den Wienerwald. Der Gürtel als Stadtautobahn und Laufsteg des Rotlichtgewerbes ist eine Wiener Sondersituation und ein Problemfall mit jahrzehntelang erfolgloser Reformgeschichte. Die Hochbahn Wagners ist ein leistungsfähiger Beitrag zu Funktion und Ästhetik der modernen Großstadt.

Jeder angrenzende Straßenraum hat hier seine charakteristische Perspektive. Der Währinger Gürtel führt gnadenlos auf Hundertwassers Heizzwiebel zu und endet als unscheinbarer Seitenast an den Stadtbahnbögen. Die Heiligenstädter Straße setzt den Gürtel fort und mündet in eine geradezu japaneske Verschlingung von hochliegenden Verkehrswegen. Der Liechtenwerder Platz ist der Beweis, daß mit dem einst hochgeschätzten städtebaulichen Element Stadtplatz kein klares Gefäß, sondern auch eine diffuse Gegend gemeint sein kann, in der sich neben Autos nur Studenten und zum Verkehrsamt beorderte Versicherungsvertreter bewegen müssen. In dieser merkwürdigen Collage von Altem und Neuem, von Gelungenem und Entgleistem, von hektischen Verkehrsbändern und unauffälligem Wohnquartier steht ein Mietwohnhaus der Gründerzeit, den meisten erinnerlich durch das dort vormals beheimatete Café Grillparzer.

Zuletzt war dieses traditionelle Kaffeehaus heruntergekommen. Das Portal wurde in den fünfziger Jahren von seinen Bossen befreit, belanglos war auch das Innere. Sepp Fischer und Andrea Lechnitz ließen sich als neue Eigentümer und bereits erfolgreiche Gastronomie- Anbieter von diesen Widrigkeiten nicht täuschen. Der Standort macht einen radikalen Umbau zu einem Schaufenster und einer Rückzugsnische für eine sich als schick einschätzende Stadtjugend plausibel.

In einem geladenen Wettbewerb lotet die Bauherrschaft 1994 aus, wie groß der Spielraum architektonischer Ansätze sein kann. Angestrebt wird ein Mischtyp von Café und Restaurant, sozusagen eine Kombination von Wohn- und Eßzimmer für jene, die nicht zu Hause bleiben, nicht auf der Straße und trotzdem im Mittelpunkt des Geschehens sein wollen. Integriert in den Gastraum sollte eine Kaffeerösterei sein, woraus sich auch der Name „Blaustern“, ein Verweis auf die Kennzeichnung einer südamerikanischen Bohnenqualität, ableitet.

Walter Ifsits, Hanno Ganahl und Werner Larch kommen mit ihrem bisher größten Bau, dem Golfhotel in Ebreichsdorf, als Referenz ins Rennen. Ihr Vorschlag einer Ausschälung der tragenden Mittelmauer zugunsten eines winkelförmigen, holzbekleideten Großraums setzt sich gegen die einschlägig erfahrenen Teams Driendl & Steixner sowie Eichinger oder Knechtl durch. Erste Skizzen und Modelle zeigen einen durch den Abbruch der Fensterparapette an der Schauseite entgrenzten Raum, der die Grenzen zwischen Lokal und öffentlichem Gut verwischen will. Mit Rietveld- Sesseln möbliert, kündigt sich zumindest ein kühles, strikt neomodernes Ambiente an.

Die Realisierung ist mehrschichtiger ausgefallen, wenn auch nicht ganz ausgereift in der Wahl der Materialien. Das Kunstlicht unterstützt die funktionale Zonierung und verdeutlicht das Bekleidungsprinzip. Die verglasten Wandpfeiler holen den Straßenbetrieb in das Innere und replizieren das Verkehrsgeschehen. Die Möblierung mit quadratischen Tischen und den wiederentdeckten Sesseln Roland Rainers ist stimmig, weil sie nicht ostentativ Designobjekte präsentieren will, sondern sich zweckdienlich dem Gesamteindruck unterordnet.

In den durch große Fenster perforierten Raum, in dem die Logik des mit zwei Stützen unterfangenen, statischen Systems keine Rolle mehr spielt, werden ein Vorhang und ein Deckel aus Sperrholz eingehängt. Die Fugen rhythmisieren den Raum, ordnen ihn, fassen seine Irregularitäten zusammen. Ifsits, Ga-nahl und Larch intendieren in dem gemeinsam mit Claudia König und Christian Matt realisierten Gastraum keine sterile, sondern eine sinnliche Stimmung, die mit dem Attribut sachlich gut zu umschreiben ist. Die moderierte Sinnlichkeit deutet auf eine Ambivalenz des Ansatzes hin, auf ein „Sowohl-als- auch“, das freilich nicht jenen Grad an Mehrfachkodierung erreicht, den Hermann Czechs gereifte Café-Schöpfungen in aller Gelassenheit vorstellen können.

Alles in allem eine überzeugende Belebung eines alten Standortes, eingedenk der Totgeburten in den Cafés Sperl und Landtmann. Das Café Stein, die Restaurants Kiang, Wrenkh und Scala oder die Bar KIX haben den Wiener Boden zur Befreiung von mächtigen Ausstattungstraditionen bereitet. Ifsits ist Wiener, Ganahl und Larch stammen aus Vorarlberg; dementsprechend sind sie eher der Deutschschweizer Gestaltungsszene verbunden. So wundert es nicht, wenn das „Blaustern“ nicht nur Wiener Erfahrungen verarbeitet, sondern das Restaurant „vinikus“ von Annette Gigon und Mike Guyer in Davos als Bezugsebene gilt. Kompromißlose Materialstringenz und gelegentlich zu ernste Formdisziplin, die selbst der Deutschschweizer Einfachheit zum Problem zu werden droht, sind im „Blaustern“ wiederzuerkennen. Mögen materiale Wahlverwandtschaften mit den Vorläufern in Wien existieren, der Unterschied liegt im absichtsvollen Verzicht auf literarische Elemente. Wenn ein Kernsatz von Walter Ifsits zum gestalterischen Umfeld lautet: „Wir hassen die Mode, wir suchen das Understatement, die Reduktion auf das Wesentliche“, dann muß man konstatieren, daß dieses Credo zwar oft zitiert wird, nichtsdestoweniger aber weitgehend umgesetzt ist. Der Lage und Machart des „Blaustern“ entsprechend, ist der Zuspruch im ersten Halbjahr nach der Eröffnung hoch; der wirtschaftliche Erfolg der Investition ist absehbar.

Die von den Architekten ersehnte Homogenität in der Einfachheit, die sich in manchem Moment nicht ganz einstellen will, beweist nur, daß es sich eben doch um eine Erstbegehung des schmalen Grates zwischen Anspruch und Baubarkeit handelt. Beste Architektur enthält stets die Komponenten Imagination und Erfahrung. Mit diesem Bau erreicht die architektonische Kultivierung der Wiener Gastronomie - von der Mitte ausgehend - den Gürtel. Um als weltoffener Westwiener im öffentlichen Wohnzimmer seine Sprech- oder Lesestunden, seine Rendezvous und Observierungen abzuhalten, müßte nicht mehr weiter stadteinwärts gefahren werden. Ob sich risikofreudige Unternehmer zu analogen Aktionen hinreißen lassen, bleibt abzuwarten.

Vielleicht werden statt radialer Pirschgänge auf die ultimative Kaffeehausschöpfung bald tangentiale in Mode kommen. „Der Gürtel geht auf“, könnte der neue Lockruf der sich entfaltenden Stadtzone sein. Daß die verruchtesten Quartiere einer Stadt gute Optionen auf neue Attraktivität bieten können, sofern ihnen kollektive Bewußtseinsverschiebungen zugute kommen, ist bekannt.

Wenn früher Bankstellen die Cafés aufgesogen haben, so ist zu prognostizieren, daß das absehbare Filialsterben bei den Großinstituten dem Kaffeehaus neue Raumreserven eröffnet. Die der virtuellen Kommunikation vor der Workstation überdrüssigen Telearbeiter werden sich nach dem Eintauchen in die analoge Stadt sehnen, nach der Warte für die Stadtbeschau. Hierarchielose, halböffentliche Räume wie das „Blaustern“ werden sich rascher weiterentwickeln als der private (Wohn-)Raum, der einer Neutralisierung der Nutzungsmuster bedürfte. Das Café kann ein Rückzugsnische werden, während sich der Wohnraum in die digitale Welt entgrenzt.

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