Bauwerk

Sonderschule für sehbehinderte Kinder
Driendl*Steixner - Wien (A) - 1995

Das Ende der Kalkputzstadt?

Eine neue Form der Urbanität – ohne jeden Bezug zur imperialen Vergangenheit Wiens? Mit ihrem Schulzubau in der Zinckgasse setzen die Rainer-Schüler Georg Driendl und Gerhard Steixner einen Schritt in diese Richtung.

25. November 1995 - Christian Kühn
Vergangenes Jahr hat die „Königliche Kommission für die Schönen Künste“ Großbritanniens ein Buch herausgegeben, das unter britischen Architekten für einiges Aufsehen sorgte. Sein Titel lautete schlicht: „What makes a good building?“ Auf die Frage, was für das Gelingen eines guten Gebäudes notwendig sei, bietet dieses Buch eine äußerst einfache Antwort: ein gutes Raumprogramm, ein guter Bauherr und ein guter Architekt. Architektur als kulturelle Positionsbestimmung könne nur gelingen, wenn diese drei Faktoren zusammenstimmen.

Diese einfache Antwort stellt die Frage nach der Qualität von Architektur in den Kontext der vielfältigen und oft widersprüchlichen Kräfte, die an der Entstehung eines Bauwerks beteiligt sind. Daß dabei neben dem Architekten und dem Bauherrn auch das Raumprogramm als ein eigenständiger Faktor bezeichnet wird, ist bemerkenswert, gelten doch Raumprogramme meist als objektive Vorgaben, die getrennt vom Entwurfsprozeß erarbeitet werden können.

In Wahrheit ist das kaum je der Fall. Raumprogramme sind nichts wissenschaftlich Objektives, sondern das Ergebnis von Konventionen und Erfahrungswerten und verschiedensten, oft irrationalen Einflüssen. Sie sind nur ein erster Ansatz, um menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte in bezug auf einen bestimmten Ort quantitativ und qualitativ zu formulieren. Ein guter Bauherr zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß er von seinem Architekten erwartet, das Raumprogramm im Entwurfsprozeß nicht nur zu erfüllen, sondern über die bisherige Erfahrung hinaus kritisch weiterzuentwickeln.

Wenn es der Wiener Stadtverwaltung in letzter Zeit irgendwo gelungen ist, sich als guter Bauherr in diesem Sinn zu erweisen, dann im Rahmen des Schulbauprogramms 2000, jener Summe von rund 60 Einzelprojekten, in die bis zur Jahrtausendwende über neun Milliarden Schilling investiert werden sollen. Dabei ist bisher eine erstaunliche Anzahl qualitätsvoller Schulbauten entstanden und in der Öffentlichkeit heftig diskutiert worden.

Die Feststellung der Vizebürgermeisterin und Stadträtin für Jugend, Familie, Soziales und Sport, Grete Laska, daß „architektonische Kinkerlitzchen nicht wichtiger sein dürfen als ein ordentlicher Schulbetrieb“, markiert zusammen mit dem lustvollen Auswalzen von Kontrollamtsberichten die unterste Grenze des Diskussionsniveaus. Dagegen steht am anderen Ende die differenzierte Auseinandersetzung, die sich unter den Benutzern und in der Fachwelt entwickelt hat. Daß man nicht nur in, sondern auch von diesen Schulen lernen kann, ist unbestritten; und das ist ein gutes Zeichen.

Die Schule in der Zinckgasse im 15. Bezirk, ein Entwurf der Architekten Georg Driendl und Gerhard Steixner, ist das jüngste Beispiel dieser Entwicklung. Driendl und Steixner haben 1992 mit einem Wettbewerbsbeitrag für die Hauptschule in der Langobardenstraße auf sich aufmerksam gemacht. Ihr Projekt – im Wettbewerb leider sang- und klanglos untergegangen – war der interessanteste Beitrag zur Schulbautypologie, der in Wien in den letzten Jahren entstanden ist. War in der Langobardenstraße ein Neubau auf der grünen Wiese gefordert, für den Driendl und Steixner ein urbanes Raumgerüst vorschlugen, so handelt es sich in der Zinckgasse um einen Zubau zu einer bestehenden, innerstädtischen Schule aus dem 19. Jahrhundert. Dieser Zubau sollte speziell für den Unterricht sehbehinderter Kinder konzipiert werden. Zur Verfügung stand eine enge Baulücke – auf der einen Seite begrenzt vom bestehenden Schulbau, auf der anderen von einem privaten Wohnhaus.

In ihrem ersten Entwurf schlugen die Architekten vor, an die Schule mit einem leichten Verbindungsbau anzuschließen und vom Nachbarhaus ein Stück abzurücken. Dieser Gedanke, das Gebäude zumindest optisch frei in die Baulücke zu stellen, hatte einerseits ganz pragmatische Gründe: Der Zustand des Nachbarhauses ließ mittelfristig einen Verkauf der Liegenschaft erwarten, was die Möglichkeit geboten hätte, dort eine für die Schule dringend benötigte Freifläche zu schaffen. Zugleich war dieses Abrücken aber auch ein Ausdruck der Ablehnung gegenüber dem festgefügten, geschlossenen Baublock der Gründerzeit.

Der Versuch, über ein Schulprojekt so etwas wie Städtebau von unten zu betreiben, erwies sich jedoch bald als unrealisierbar. Die Forderung nach Nutzflächenmaximierung machte eine fast vollständige Überbauung des Grundstücks notwendig, selbst ein kleiner Lichthof, der den im Keller untergebrachten Turnsaal erstaunlich gut mit Seitenlicht versorgt, mußte in den oberen Geschoßen – bis auf einen winzigen Rest von sechs Quadratmetern – mit auskragenden Gebäudeteilen überdeckt werden.

Um im Inneren trotz dieser hohen Dichte nirgendwo das Gefühl von Beengtheit aufkommen zu lassen, haben sich die Architekten bemüht, die umliegenden Straßen- und Hofräume durch geschickte Orientierung und großzügige Verglasung einzubeziehen. Oberlichten und einige klug gesetzte, verglaste Innenwände erlauben immer wieder Durchblicke durch das Gebäude, die aber nicht als jeweils für sich inszenierte Bilder wirken, sondern erst in ihrer Summe eine gesteigerte Raumerfahrung vermitteln.

Wer an große Gesten gewöhnt ist, wird hier nicht auf seine Rechnung kommen. Dafür stellt sich rasch das Gefühl ein, in einem harmonisch aufgebauten Gehäuse zu sein, das den Benutzer schützt, ohne ihn einzuschließen. Für die Grundrißanordnung ließ die enge Baulücke nur wenig Dispositionsfreiheit. Pro Stockwerk sind zwei Klassen an die Straßenseite gelegt, ein schmaler Pufferraum dient als Garderobe. In die Grundstückstiefe schiebt sich ein etwas verschmälerter Quertrakt, der eine weitere Stammklasse, das Treppenhaus und Sonderunterrichtsräume aufnimmt. Die Straßenfassade ist, dieser Anordnung entsprechend, symmetrisch gegliedert, nur im Erdgeschoß wird das leicht zurückgesetzte Fensterband der Lehrküche über die Mitte hinaus bis zum Haupteingang geführt. Dieser durchaus konventionellen Anordnung steht eine konstruktive und formale Durchbildung gegenüber, die das Gebäude von seiner Umgebung abhebt. Um den Klassen möglichst viel Licht zu geben, ist die Straßenfassade fast vollständig verglast. Wegen der großen Höhe der Stockwerke wurde eine Fixverglasung vorgesehen, vorgehängte Balkons erlauben eine einfache Reinigung. Für die Belüftung sorgen etwas schmälere, nicht verglaste Elemente.

Aus dieser Trennung der Funktionen des Fensters – in Belichtung und Ausblick auf der einen und Belüftung auf der anderen Seite – entsteht eine ungewöhnliche, auf den ersten Blick irritierende Ordnung der Fassaden, die durch die ursprünglich vorgesehene Ausführung als Holzriegelwand noch verstärkt worden wäre; die jetzt ausgeführte Aluminiumkonstruktion, zusammen mit dem graugefärbten Putz, gibt dem Gebäude von außen einen technoiden Charakter. Wenn die vorgesehene Begrünung der Fassade als zusätzliche organische Schicht tatsächlich realisiert wird, könnte der ursprünglich angestrebte Eindruck zumindest annähernd Wirklichkeit werden.

Im Inneren beweist die Materialwahl deutlich, daß die glattpolierte Fassade nicht die erste Wahl der Architekten gewesen sein kann. Hier stoßen massive Klinkerwände an Fichtenholzverschalungen, Solnhofner Platten an Terrazzo. Diese Mischung von Materialien, die nicht nur optisch, sondern auch bei der Berührung sehr unterschiedlich wirken, ist in einer Schule für sehbehinderte Kinder natürlich besonders gerechtfertigt.

Wer andere Bauten von Driendl und Steixner kennt, weiß, daß sie diese sich hart an der Grenze zur Dissonanz bewegende Materialkombination aber in jedem Fall gewählt hätten. Als Schüler von Roland Rainer haben sie keine übertriebene Ehrfurcht vor dem, was oft als „Genius loci“ Wiens bezeichnet wird, vor der „Kalkputzstadt“ und deren Klassizismus. Es gibt in dieser Hinsicht eine Verwandtschaft zwischen Rainers gerade in Fertigstellung begriffenem Akademiehof und der Schule in der Zinckgasse. Hier wie dort wird eine andere Form von Urbanität gesucht, eine Urbanität ohne jeden Bezug zur imperialen Vergangenheit Wiens, und daher auf den für Wien typischen Versuch einer Verbindung von Moderne und Klassizismus verzichtet.

Es ist erstaunlich, daß Bauten wie diese im Wiener Kontext nach wie vor „fremd“ erscheinen, zumindest im Vergleich mit so typisch „wienerischen“ Bauten wie den Ringstraßengalerien oder dem Penta-Hotel. Auch wenn die Letztgenannten dazu jeden Anlaß geben: Der „Genius loci“ kann nicht emigrieren. Aber er kann sich verändern und entwickeln. 80 Jahre nach dem Ende der Monarchie ist dafür vielleicht die Zeit gekommen

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