Bauwerk

Wohnbebauung ´Laxenburger Strasse´
ARTEC Architekten - Wien (A) - 2001
Wohnbebauung ´Laxenburger Strasse´, Foto: Paul Ott

Zu dicht - gibt's denn das?

404 Wohnungen in vier achtgeschoßigen, parallelen Zeilen, durch die quer zwei dreigeschoßige Riegel durchgesteckt sind: ein Prototyp für zeitgemäßen Urbanen Wohnbau in Wien-Favoriten, entworfen von Bettina Götz und Richard Manahl alias ARTEC

23. Februar 2002 - Christian Kühn
Der neue Wohnbau an der Ecke Laxenburger Straße/Dieselgasse im zehnten Wiener Gemeindebezirk versucht gar nicht erst, seine Dimension zu kaschieren: 404 Wohnungen in einem einzigen großen Bauwerk, gegliedert zwar, aber mit der kühlen Logik des Maschinenbaus. Vier achtgeschoßige, parallele Zeilen sind in Nord-Süd-Richtung angeordnet, in Querrichtung durchdrungen von zwei dreigeschoßigen Riegeln, die an den Enden gefährlich auskragen. Einer der beiden Riegel schwebt bodennah an der Nordseite und bildet eine breite gedeckte Passage. Der andere setzt auf der Höhe des vierten Geschoßes an und überbrückt die zwischen den Zeilen liegenden begrünten Zwischenräume.

Bettina Götz und Richard Manahl - die zusammen unter dem Namen ARTEC firmieren - haben mit diesem Wohnbau für die Genossenschaften GSG und Heimbau ihr bisher größtes Projekt realisiert. In Wien sind sie zuvor vor allem durch einen Schulbau in der Zehdengasse bekannt geworden, bei dem sie zu einer eigenwilligen poetischen Sprache fanden: plötzliche Materialwechsel, unvermitteltes Aneinanderstoßen von Raumschichten und im Inneren eine Kombination aus kräftigen Farben und Texturen. Der Wohnbau in der Dieselgasse ist in einem einheitlicheren Takt komponiert. Als Grundmaß könnte man die schweren, unbehandelten Betonbrüstungen ansehen, die - jeweils von zwei kreisrunden Öffnungen durchbrochen - als Balkon-geländer das Fassadenbild zu den Höfen hin bestimmen und auch in den inneren Erschließungshallen den Takt vorgeben. Der Massivität dieses Elements steht die Leichtigkeit der sonstigen Fassadenkonstruktion gegenüber, die zu großen Teilen aus einer glänzenden Metallschale besteht, die üblicherweise im Industriebau zum Einsatz kommt.

Es lohnt sich, den ARTEC-Bau mit Martin Kohlbauers unmittelbar angrenzendem Wohnbau zu vergleichen, einer weiß verputzten, klassische Stadtmuster zitierenden Anlage von annähernd gleicher Dichte. Der wesentliche Unterschied ist, daß ARTEC versuchen, eine dieser Dichte angemessene Bebauungsstruktur zu finden und nicht einfach noch mehr Wohnungen noch höher übereinanderzustapeln. Sie variieren dazu den Typus des „Passagenwohnhauses“: In den nord-südgerichteten Zeilen ist je eine über alle Geschoße reichende, mit einem Glasdach gedeckte Halle mit Galerien angeordnet, von denen aus die Wohnungen erschlossen werden.

Dieser Typus ist keine neue Erfindung: In der Wiener Donau-City ist er beispielsweise - unter ähnlichen Dichtevorgaben - von Mike Loudon erfolgreich eingesetzt worden. Durch die Kombination mit den quer zu den Zeilen durchgesteckten Baukörpern bekommen diese Hallen allerdings eine neue Qualität. Über dem dritten Geschoß gelangt man zur Dieselgasse hin aus jeder Halle auf eine durchgängige, 150 Meter lange Dachterrasse, die allen Bewohnern zur Verfügung steht. Auch über dem zweiten Riegel findet sich, auf der Ebene des siebten Geschoßes, eine solche Terrasse mit Ausblick über ganz Wien.

Durch dieses Erschließungssystem wird ein halböffentlicher Raum erzeugt, der sich als Netzwerk durch das Gebäude zieht. Im Unterschied zu konventionellen Stiegenhäusern ist dieses Netzwerk nicht nur ein Verkehrsweg, der von der Straße auf möglichst kurzem Weg in die Wohnung führt. Es bietet eine große Anzahl von potentiellen Ruhe- und Begegnungspunkten und mehrere Wege, vom öffentlichen Raum der Straße zur eigenen Wohnung zu gelangen. Ob die Bewohner diese Möglichkeiten nutzen und die zufälligen Begegnungen als Bereicherung oder Bedrohung erleben, wird sich zeigen. Aber schon das Angebot dieses halböffentlichen Raums ist wichtig.

Die Grundsatzdebatte, ob eine solche Dichte sozial überhaupt verträglich ist, wurde lange mit ideologischer Inbrunst geführt, etwa in der Polarisierung zwischen der Gartenstadt Roland Rainers und den terrassierten Hochhausapparaturen Harry Glücks. Heute scheint diese ideologische Diskussion durch einen Wohnungsmarkt überholt, auf dem es - in der Donau-City, in den Gasometern oder bald in den Wohntürmen auf dem Wienerberg - offenbar genug Interessenten für das Wohnen in dichten Strukturen gibt.

Man könnte nun behaupten, daß diese Nachfrage keineswegs die wirklichen Bedürfnisse der Bewohner widerspiegelt, sondern die harten Zwänge der Ökonomie. Das mag sein: Immer noch träumt die große Mehrheit vom Häuschen im Grünen. Aber die flächenhafte Agglomeration dieses Traums führt nicht nur zu einem ökologisch völlig unverantwortlichen Bodenverbrauch, sondern in der Regel auch zu einer Trostlosigkeit, wie man sie vor kurzem in Ulrich Seidels Film „Hundstage“ prototypisch vor Augen geführt bekam. Etwas Artifizielleres als eine jener Siedlungen im Süden Wiens, die im Film eine desperate Hauptrolle spielen, ist kaum mehr vorstellbar. Insofern kann man das Interesse für dichte Wohnformen durchaus als ein unsentimentales Bekenntnis verstehen: Wenn schon künstlich, dann mit allen Vorteilen städtischen Lebens, einer gewissen Anonymität, in der man seine Nachbarn grüßen kann, aber nicht muß, und vor allem mit kurzen Wegen zu verschiedenen städtischen Angeboten. Einer der großen Vorteile des Standorts an der Dieselgasse ist die unmittelbare Nähe zu einem der größten Schulzentren Wiens, das über ein Netz von begrünten Wegen kreuzungsfrei zu erreichen ist.

Die gesamte Anlage ist damit ein Prototyp für zeitgemäßes urbanes Wohnen. Im Vergleich zu den Großstrukturen im sozialen Wohnbau der siebziger Jahre ist sie besser an die städtische Infrastruktur angebunden, in höherer Qualität ausgeführt (etwa mit Holz-Aluminium-Fenstern) und auch in den Grundrissen wesentlich intelligenter konzipiert. Immerhin gibt es Wohnungstypen mit zwei Eingängen, in denen eine Generationswohnung oder eine Ordination als eigene Einheit betrieben werden kann, oder - in den unteren drei Geschoßen - kleine, unabhängige Räume, die als Büro angemietet werden können.

Eine größere Anzahl solcher flexibler Zonen wäre der nächste Schritt zu einer zeitgemäßen urbanen Dynamik. Mit diesem Anliegen stößt man aber rasch an die engen Grenzen der heu-tigen Baugesetze und Förderungsmechanismen. Die Anpassung der Raumhöhen von Büro- und Wohnbauten und die Einbeziehung halböffentlicher und erst langsam auszubauender Zonen in die Wohnbauförderung sind längst fällig und seit Jahren in Diskussion. ARTEC haben sich mit einigen Kollegen - Jabornegg-Palffy, MA-null, Max Rieder, PAUHOF, Elsa Prochazka, Manfred Wolff-Plottegg, Maria Welzig, Gerhard Steixner - zu einer interdisziplinären Gruppe zusammengeschlossen, die diesen Reformstau durch Forschung und Projekte auflösen möchte. Gerade weil Wien sich in den nächsten Jahren in hohen Dichten entwickeln wird, ist die Botschaft an Bauträger und Politik wichtig: Dichte allein ist keine Qualität, sondern nur ein Potential für reichhaltigere, im Raum gewebte Strukturen. In der Dieselgasse kann man ein Modell dafür besichtigen.

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