Bauwerk

Kindergarten Aigen X
maxRIEDER - Salzburg (A) - 1998
Kindergarten Aigen X, Foto: Andrew Phelps
Kindergarten Aigen X, Foto: Andrew Phelps

Kommunaler Alpenattraktor

Keine schlichte Schachtel, sondern ein vielgliedriger Wohnapparat: Max Rieder entzog sich mit seinem Kindergarten in Salzburg-Aigen den gängigen Formerwartungen.

4. Juli 1998 - Walter Chramosta
Gute Architektur reagiert auf Vorgaben der Gesellschaft, der Landschaft, der Wirtschaft et cetera und agiert in bewußter Stärkung oder Schwächung dieser Anfangsbedingungen im Sinne der Nutzer in Fortschreibung des Großraumes. Da verantwortungsvolles Bauen immer den Verlust bestehender Qualität mit dem Gewinn einer neuen aufzuwiegen versucht, interessiert besonders die Strategie eines gelungenen Abtausches.

Einklang und Angemessenheit können dann leistungsfähige strategische Ansätze sein, wenn das in Stadt und Land Vorgefundene nur im Positiven zu bestärken ist. Meist ist der Architekt aber mit einem widersprüchlichen Problemgeflecht konfrontiert, in dem er mit seinem Werk eine Klärung einleiten will. Freilegung verschütteter und Widerstand gegen praktizierte Ideen sind ebenso legitim wie neue.

Der Kindergarten in Aigen X des Salzburger Architekten und Kulturtechnikers Max Rieder führt exemplarisch vor, was eine vielschichtig dialogisierende Architektur, die vorwiegend aus dem Ort schöpft und dabei mit subtilen Mitteln einen neuen definieren will, leisten kann. Rieder baut ein höchstpersönliches Bekenntnis zu Salzburg, vollzieht letztlich eine psychotherapeutische Aufarbeitung eines in Jahrzehnten oft schmerzlich angereicherten „Stadtbildes“.

Der heuer fertiggestellte Bau reagiert feinnervig auf die latente Befindlichkeit der Architektur - die „Neue Bescheidenheit“ hat ihren Zenit überschritten, und statt elementarer Schachteln sind wieder Bauten mit stärkeren Physiognomien gefragt. Unmittelbar kommentiert der kommunale Kindergarten die bestehenden Vorstadtverhältnisse in Aigen, einer gutbürgerlichen Wohngegend mit auffallend vielen gestaltlosen Bauten, die sorglos mit dem hohen Landschaftspotential umgehen.

Automatisch ist damit die kulturpolitische Situation Salzburgs in der durch die Verhinderung großzügiger architektonischer Lösungen charakterisierten Ära nach Voggenhuber thematisiert.

Wenn für ganze Bauwerke, und nicht nur für einzelne Tragwerkselemente, ein Widerstandsmoment angebbar wäre, würde dieser Bauskulptur ein vieljähriger Höchstwert auf der nach oben offenen Salzburger Siza-Skala zustehen. Denn Aktion geht hier vor Reaktion, Risiko vor Gewißheit, Sinnlichkeit vor Rationalität, Räumlichkeit vor Konformität, Nutzwert vor Konvention, Kinderwahrnehmung vor Erwachsenenerwartung - alles, ohne die Funktionalität zu schmälern.

Eine Rückblende. Unter Johannes Voggenhuber erreicht das Architekturreformphänomen Salzburg um die Mitte der achtziger Jahre seine produktivste Phase. Noch in seiner Ära wird ein erstes Verfahren für einen Kindergarten Aigen abgehalten, ohne befriedigendes Ergebnis. Ein weiterer Anlauf scheitert an Voggenhubers Einwänden. Erst 1992, lange nach dessen Abgang, geht Max Rieder aus einem neuerlichen Wettbewerb als eindeutiger Sieger hervor. Der Baubeginn erfolgt schließlich erst im Februar 1997, nachdem budgetäre Gründe der Realisierung entgegengestanden waren.

Mehr als ein Jahrzehnt, eine international beachtete, architekturpolitische Reform und deren weitgehende Erosion werden benötigt, um einen viergruppigen Kindergarten zu planen und zu bauen. Bezeichnenderweise ist Max Rieders Bau die erste originär kommunale Architektur in der Stadt Salzburg seit Ernst Hoffmanns Feuerwehrgebäude, damit eigentlich deren erste Manifestation in architektonischer Moderne seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Kindergarten ist in diesem restriktiven Klima erwartungsgemäß zu einem Reibebaum geworden. Selbst das gegenüber dem Wettbewerbsbeitrag vereinfachte Konzept erregt in Aigen Anstoß. Aber es sind nicht die Kosten. Der Gesamtaufwand mit 6,5 Millionen Schilling (466.600 Euro) pro Gruppe liegt um eine halbe Million (35.900 Euro) über dem landesüblichen Durchschnitt. Wenn man den räumlichen Ertrag, die Aufenthaltsqualität in Betracht zieht, dann sind diese Kosten mehr als angemessen. Gerade in der mit Pflanzen, Möbeln und kindlichem Wandschmuck beschwichtigenden Nachrüstungsphase zeigt sich, daß es der Stadt nicht am Geld, sondern nur am Mut, zu einer einmal gefaßten, begründeten Entscheidung zu stehen, mangeln kann.

Die räumlichen Vorsorgen Rieders sind trefflich für die kindliche Wahrnehmung geeignet, weil variantenreich, wenn auch für Erwachsene unkonventionell anmutend. Die vier Schauseiten des stark gegliederten Komplexes leisten spezifische Aufgaben für die Nutzer, üben kalkulierte Wirkungen auf die Umgebung aus: zur Stadt die weit schwingende, vom aufgeständerten Runddach des einen Bewegungsraumes asymmetrisch bekrönte Eingangssituation, die Architekturen des Barock assoziieren läßt; zum noch weithin unbebauten Grasland im Süden die holzverschalten, wie Finger vortretenden, lapidar wirkenden Gruppentrakte; nach Osten der wie eine voralpine Höhung aus der Ebene in Kaskaden aufsteigende, komplexe Beton- und Putz-Körper.

Das eingeschoßige „Sackgassenelement mit Verwirbelungskraft“, das die „Trajektorien“, die aus der benachbarten Banalsiedlung direkt auf den Eingang zuführen, einfängt, ist nach Rieder als „Bremse“ zu erleben, die zur Ruhe führt. Von diesem versammelnden Punkt geht eine neue Bewegung aus, der „Bildungsbeschleuniger“ entfaltet seine Wirkung. Die laminaren Strömungen der Wahrnehmung, die eingefahrenen Bahnen des alltäglichen Daseins, werden durch den Bau, den voralpinen „Attraktor“, in Turbulenz, in inspirierend Neues übergeführt. Gleichnishaft setzt Rieder dem omnipräsenten, lähmend nivellierenden Druck der Gesellschaft seine normative Kraft des Faktischen entgegen.

Rieders Raumsequenz umschreibt die im Kindergarten beginnende Wandlung des Kindes von der elterngezwängten zur eigenverantwortlichen Existenz mit dem für jeden Wasserbautechniker geläufigen Wechsel des Abflußzustands von laminar auf turbulent. Die Hydraulik beschreibt diesen Wechsel etwa an Wehrschwellen, hier wird er räumlich vollzogen in der Transformation eines Einraums, des fließenden Kontinuums des Foyers, in einen Mehrfachraum, die drei in die Natur weisenden Holzquader der Gruppen. Die von einer dialektisch-wolkig texturierten, nichtsdestoweniger massiven Betondecke dominierte niedrige Halle faßt die Funktionseinheiten zusammen. Sie erlaubt Durchsicht in alle Bereiche, Ausblicke in die Halbhöfe und wirkt als verteilende Vorzone zu den „Wohnzimmern“.

In den vier Gruppenräumen ist für unzählige Spielsituationen mit Detailversessenheit vorgesorgt, hervorstechend ist aber, wie der Außenraum über akzentuiert gesetzte, auch parapetlose Fenster in das Innere einbezogen wird. Dieser öffentliche Bau zelebriert so recht dosiert Qualitäten privater Wohnkultur und verräumlicht die für Kinder so gravierende Ablösung vom Elternhaus erfreulich, wenn auch für die meisten ungewohnt.

Die Unbefangenheit der Kinder im Umgang mit dem Bau wird Eltern und Betreuerinnen Ansporn sein, das Haus zu verstehen und in seinen zahllosen Raum-, Form- und Farboptionen zu erschließen. Protest ist, auch wenn es so scheinen mag, keine primäre Kategorie in Rieders Bauten. Vielmehr sind es komplexe Kommentare zu komplex empfundenen Situationen.

Dieser Kinderkosmos ist, bezogen auf Rieders Entwurfsschaffen, sicher ein Hauptwerk, er kann als räumliche Konkretisierung lange bedachter Gedanken zu einem dichten Raumgeflecht gelten. Es ist berührendes Manifest eines Maximalismus in Struktur und Textur, in Anspruch und Verwirklichung, in Raum und Zeit.

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