Bauwerk

Wohnanlage Stadttor
driendl*architects - Innsbruck (A) - 2003
Wohnanlage Stadttor, Foto: Lew Rodin

Die Irritation der Stille

Sozialer Wohnbau, der optimale Wohnqualität bietet und dem man die knappen Kostenvorgaben nirgends ansieht - und das in einem äußerst schwierigen Umfeld: das ist Georg Driendl in Insbruck gelungen.

2. August 2003 - Liesbeth Waechter-Böhm
Wohnbau findet heutzutage entweder in extremen Stadtrandlagen oder an besonders problematischen Standorten statt. Das ist nicht nur in der Bundeshauptstadt so, das gilt für fast jede mittlere, erst recht größere Stadt. In diesem Fall ist von Innsbruck die Rede. Dort hat Georg Driendl kürzlich eine Wohnanlage fertig gestellt, die genau mit diesen Voraussetzungen zu Rande kommen musste. Sie steht wirklich an den Outskirts of Innsbruck und noch dazu an einer Einfallstraße, deren Verkehrsaufkommen den ganzen Tag und die halbe Nacht lang horribel ist.

Nicht zufällig gab es im Vorfeld der Rea-lisierung des Projekts auch immer wieder entmutigende Reaktionen auf Seiten von Driendls Architektenkollegen: Kopfschütteln, Zweifel und stets die gleiche Frage: Darf man in einem solchen Umfeld überhaupt Wohnbau machen? Dazu eines ganz deutlich: Man kann diese Frage, wie berechtigt sie theoretisch auch immer sein mag, wohl nur als rein rhetorisch ansehen. Wer hat je von einem Architekten gehört, der einen Auftrag aus Gründen der sozialen Unzumutbarkeit abgelehnt hätte? Andererseits: Es war eine äußerst schwierige Ausgangssituation.

Der Lärm ist gewaltig. Draußen auf der Straße kann man sich nur unterhalten, indem man sich gegenseitig ins Ohr schreit. Wenn man dann drin ist in der Anlage, dann gibt es einen merkwürdig verzögerten Moment, da nimmt man plötzlich die Stille wahr - unwirklich, irritierend.

Wohlgemerkt, ich rede nicht von einer Wohnung, in der ich mich in diesem Augenblick aufgehalten hätte, sondern vom Freibereich zwischen den fünf Zeilen, die Driendl hier realisiert hat. Er hat seine Baukörper natürlich mit der Schmalseite, also im rechten Winkel, zur Amraser Seestraße gestellt - das war aus Schallschutzgründen obligatorisch -, glücklicherweise deckt sich diese Positionierung mit der optimalen Orientierung, nämlich Ost-West.

Zu diesem Effekt der Stille trägt maßgeblich eine Lärmschutzwand bei, die die gesamte Länge der Wohnanlage zur Straße hin abschirmt. Sie ist besonders strukturiert: eine erste, untere Schicht aus Nebenräumen (Kellerabteilen et cetera) hinter einer Holzlatten-Fassade, darüber eine feine Lochblech-Bahn und noch weiter oben eine nach außen leicht gekrümmte Stahl-Glas-Konstruktion. Der Holzteil ist schallweich und schluckt die tiefen Töne, der Metallteil ist ganz leicht reflektierend, und der Glasteil wirft den Lärm zurück auf den Grasstreifen zwischen Fußweg und Straße.

Schallschutzwände sind ein Problem: Sie sind in der Regel lang - die von Driendl 210 Meter -, und weil sie lang sind und auf dem Prinzip der Wiederholung von Modulen basieren, werden sie schnell unerträglich. Man darf gestalterisch keinesfalls zu viel machen, wenn man so etwas entwirft, sonst wird es penetrant. Zu wenig ist aber auch nicht gut.

Driendl hat es geschafft: Die Strukturierung der Wand ist ausgesprochen überzeugend. Es gibt indessen ein störendes Element: die „Kunst am Bau“. Sie stammt von Hans Weigand, einem hervorragenden Künstler, keine Frage, aber sie ist, meiner Ansicht nach, in dieser Situation deplaciert. Es ist eine Art handschriftliche, leuchtend farbig hingeworfene Textur, die ziemlichen visuellen Lärm macht, wo Driendls Konstruktion doch sehr still ist. Und sie könnte ganz leicht als eine Art Aufforderung gedeutet werden, sie weiterzuschreiben, noch etwas (sgraffitimäßig) hinzuzufügen. Und das wäre bestimmt nicht wünschenswert.

Dabei: Nichts gegen Sgraffiti. Aber hier wären sie kontraproduktiv. Denn hier geht es ja gerade darum, ein Wohnumfeld für Menschen zu schaffen, die eher zum unteren sozialen Level unserer Gesellschaft zählen. Es sind Mietwohnungen, es ist sozialer Wohnbau. Folgerichtig sind fast die Hälfte der Bewohner österreichische Staatsbürger ausländischer Herkunft. Das ist nach wie vor nicht ganz einfach.

Georg Driendl hat völlig logisch und sehr pragmatisch reagiert: Wohnbau für Unterprivilegierte, der nicht nur optimale Wohnqualität bietet, sondern auch visuell vergessen lässt, was hier Sache ist. In seinen Worten: „Es ist sehr aufschlussreich für eine Gesellschaft, wie sie mit ihren Ärmsten umgeht. Aber das wollten wir hinbringen: dass man der Wohnanlage nicht ansieht, dass sie echter sozialer Wohnbau ist.“

Man sieht es ihr wirklich nicht an. Derartig elegant ist sozialer Wohnbau selten gewesen. Emailliertes Glas an der Fassade - nachtblau, wie ich belehrt wurde, ich hatte es zunächst für schwarz gehalten. Die Farbe wirkt je nach dem Lichteinfall anders, und was besonders schön ist: Die Bergkette des Umgebungs-panoramas spiegelt sich im Fassadenbild und löst die kompakte „Masse“ der drei-stöckigen Baukörper teilweise auf, ihre Haut wird gewissermaßen natürlich belebt.

Der Architekt hat alles aufgeboten, was es heute unter solchen Umständen anzubie-ten gilt: Die Erdgeschoßwohnungen haben einen Gartenanteil, die Wohnungen darüber große Balkone mit verglasten Schiebetüren über die ganze Wohnraumbreite, so dass nicht nur viel Licht hereinkommt, sondern der Innenraum eine erlebbare Verlängerung in den Außenraum erfährt. Ein gelungener gestalterischer Kunstgriff: die fröhlichen Farben der Glasbrüstungen der Balkone.

Driendl hat 16-Meter-Trakttiefen vorgesehen und einen Zweispänner-Typ mit durchgesteckten Grundrissen. Das heißt vor allem: Jede Wohnung hat den ganzen Tag Sonne. Morgens im Osten, dorthin sind vor allem die individuellen Räume orientiert, nachmittags im Westen, da liegt der großzügige Gemeinschaftsbereich.

Konstruktiv ist das alles in einer Stahl-beton-Konstruktion umgesetzt, die Fassaden sind vorgehängt. Der Innenausbau in Leichtbauweise lässt langfristig jede Möglichkeit offen, man kann theoretisch die Wohnungsgrundrisse verändern, einzelne Zimmer der Nachbarwohnung zuschalten. Das sind zwar Möglichkeiten, von denen selten Gebrauch gemacht wird, aber man kann einfach nicht wissen, wie sich der Bedarf entwickelt. Daher sind solche Optionen immer gut.

Die Anlage ist äußerst ökonomisch geplant. Denn sie musste den Kriterien der Wohnbauförderung entsprechen - und das tut sie, sogar einschließlich der langen Schallschutzwand. In dieser Wand sitzen übrigens Türen mit einem internen Erschließungsweg dahinter, der jeweils direkt zu einem der Häuser führt. Die Abfahrt zur Tiefgarage ist ein wenig aus der Mitte verschoben, sie ist tagesbelichtet, ein behindertengerechter Lift führt hinauf auf Bodenniveau. Alle Erdgeschoßwohnungen sind also auch für Rollstuhlfahrer geeignet.

Dass die ziemlich edle und aufwendige, dafür aber auch sehr dauerhafte und pflegeleichte Glasfassade in diesem engen Rahmen finanzierbar war, hat wohl mit der Kompaktheit der Baukörper zu tun und mit der Ökonomie der Konstruktion. Außerdem hat Driendl auf alle technisch aufwendigen (und teuren) Installationen verzichtet: Es gibt keine Lifte, und es gibt zwar Sonnenkollektoren für die Warmwasserbereitung, aber keine kontrollierte Be- und Entlüftung. Sonnenenergie wird hier passiv genützt; das funktioniert immer, es bedarf keiner Wartung, und Niedrigenergiehäuser sind es - durch die intelligente Planung - trotzdem geworden.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur