Bauwerk

Wohnanlage
Oscar Gil Delgado, José Daroca Bruño - Carmona (E) - 2003
Wohnanlage, Foto: Fernando Alda
Wohnanlage, Foto: Fernando Alda
Wohnanlage, Foto: Fernando Alda

Sozialer wohnen in klösterlicher Strenge

Häuser

In Andalusien steht im Sommer das öffentliche Leben am Nachmittag still.

22. September 2003 - Roderick Hönig
Im August ist es in der südspanischen Weite tagsüber durchschnittlich 36 Grad Celsius heiss, und im Winter fallen die Temperaturen kaum unter 15 Grad. Abends spielt sich das gesellschaftliche Leben - wie oft in südlichen Ländern - nicht in den Wohnungen ab, sondern auf den Strassen, Plätzen und in den Bars.

Die Wohnung ist weniger Kuschelhöhle als kühler Schutzraum und Möbeleinstellplatz. Die Hitze und das trockene Klima haben ihren Einfluss auf die Architektur: Wohnhäuser in Andalusien, die vor der Erfindung der Klimaanlage gebaut wurden, haben kaum Fenster nach aussen. Fenster sind zum Lüften da und nicht für die Aussicht oder um Sonne ins Haus zu lassen.

In alten Häusern öffnen sich die Wohnräume zu einem schattigen Innenhof, wo es kühler ist als auf der Strasse. Das Hofhaus ist in Südspanien aber nicht nur klimatisch, sondern auch historisch bedingt. Es findet seinen Ursprung in der islamischen Baukunst, für deren Verbreitung in Spanien die arabische Herrschaft während über 500 Jahren sorgte. Dass die daraus entstandene maurische Bauweise auch fast 800 Jahre nach der Reconquista, der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch die Spanier, noch in der zeitgenössischen Architektur nachwirkt, zeigt eine Wohnanlage in Carmona.

Im 25 000 Einwohner zählenden Städtchen, das rund 30 Kilometer ausserhalb der Provinzhauptstadt Sevilla liegt, haben sich die beiden Architekten Oscar Gil Delgado und José Daroca Bruño bei der Gestaltung von 56 Sozialwohnungen von der Architektur arabischer Städte und Hofhäuser inspirieren lassen. Die Anlage am Rand von Carmona baut auf dem Bild des labyrinthischen Stadtgeflechts auf, wie man es beispielsweise von marokkanischen Städten her kennt: von geschlossenen Fassaden gesäumte Strassen, die zu Wegen werden, die sich immer weiter verästeln und schliesslich in kleine Wohnhöfe auslaufen.

Die Entscheidung der Architekten für diese Typologie hat aber auch einen funktionalen Grund: Die kantigen Häuser liegen auf einer sehr ungünstig geschnittenen Restparzelle, welche die Stadt für Sozialwohnungen ausgeschieden hat. Die besseren Parzellen auf dem Areal einer ehemaligen Textilfabrik hat die Gemeinde privaten Investoren verkauft. Für die von der Provinzregierung sehr stark subventionierte Wohnanlage - die Wohnungen kosten den symbolischen Preis von 100 Euro pro Monat - blieb nur noch das 25 Meter breite und 200 Meter lange Grundstück am Rand übrig.

Es machte die Planung nicht einfacher, dass die Erschliessung nur von einer Seite her möglich war, denn auf der anderen Seite beginnt bereits die Landwirtschaftszone. Die maximale Bautiefe von 25 Metern - sie ist bei der geforderten Ausnutzung für eine einzelne Hausreihe zu breit, für zwei Reihen aber zu schmal - sowie der Zugang nur von einer Seite her waren eine planerische Knacknuss.

Delgado und Daroca Bruño haben einen rechtwinkligen Raster aus schmalen, zweigeschossigen Wohneinheiten über die gesamte Parzelle gelegt und ihn anschliessend mit Erschliessungs- und Innenhöfen ausgehöhlt. Auf diese Weise ist ein komplexes System aus Maisonnette-Wohnungen, gepaart mit Erschliessungs-, Licht- und Küchenhöfen, entstanden.

Von aussen ist der räumliche Reichtum nur andeutungsweise zu erkennen. Wie bei maurischen Herrschaftshäusern ist die Fassade geschlossen, das Innenleben bleibt unsichtbar. Um die drohende Monotonie einer 200 Meter langen fensterlosen Strassenfassade zu brechen, haben die Architekten übergrosse Löcher in die Wände und hohe Schlitze in die Dachsilhouette geschnitten. Sie sind das Gegenstück zu den biederen Fensterchen und Minibalkonen der Nachbarhäuser. Die sich regelmässig abwechselnden Öffnungen machen aus der Wand ein mäandrierendes Band.

Mit diesem Gestaltungstrick nehmen die Architekten auch elegant die Höhenunterschiede auf. Weil das Terrain abfällt, liegen immer zwei Einheiten mit je fünf Wohnungen auf einem Niveau. Die Einschnitte in der Dachsilhouette nehmen die versetzten Höhen auf und sorgen dafür, dass die sanft die Strasse herunterplätschernde Architekturskulptur nicht aus dem Rhythmus fällt.

Geht man durch einen der tunnelartigen Hauseingänge, empfängt einen ein weiter Innenhof von klösterlicher Strenge. Der fünfeinhalb Meter breite und knapp zwanzig Meter lange „Innen- sowie Aussenraum“ lässt einen die lärmige und heisse Quartierstrasse vergessen. Schmale Betonlamellen, hinter denen jeweils ein kleiner (Wasch-)Küchenhof liegt, betonen seine Länge. Es gibt keine Beziehung nach aussen, nur am Kopf des Hofes ist der Olivenhain durch die Schlitze knapp sichtbar. Obwohl dieser Hof noch nicht zur Wohnung gehört, hat man das beklemmende Gefühl, ein fremdes Zimmer zu betreten.

Rundherum sind die Wohnungen nebeneinander aufgereiht, insgesamt neun Vierzimmerwohnungen mit je 70 Quadratmetern und eine Fünfzimmerwohnung mit 90 Quadratmetern. Die Hauseingänge liegen hinter Einschnitten im Lamellengitter. Öffnet man die Wohnungstür, ist die Überraschung gross: Man betritt einen Wohn- und Essraum ohne Fenster, der trotzdem hell und luftig ist. Er grenzt auf der Eingangsseite an die Küche und gegen das Hausinnere an einen drei auf drei Meter grossen, übereck verglasten Lichthof. Vier Stufen führen auf das nächste Niveau, auf dem ein Bad und ein Schlafzimmer liegen. Das Zimmer besitzt nur ein kleines Fenster auf den Lichthof. Von diesem Zwischengeschoss aus geht es in den oberen Stock zu den restlichen Schlafzimmern. Auch in ihnen hat man keinen Ausblick, sondern sie sind auf den grossen Erschliessungshof orientiert - trotzdem kommt kein Gefühl von Enge auf.

Was für Schweizer Verhältnisse undenkbar ist - eine Wohnung ohne Fenster nach aussen -, ist in Südspanien notwendig und normal. Denn im Gegensatz zu ihren Schweizer Kollegen sollen Oscar Gil Delgado und José Daroca Bruño bei ihrer Arbeit nicht möglichst viel Sonnenlicht oder einen weiten Blick in die Innenräume der Häuser holen, sondern müssen eine Architektur finden, die der Hitze trotzt. Dass diese dennoch räumlichen Reichtum und damit spannendes Wohnen auch armen Leute ermöglicht, ist das Verdienst der Architekten. Sie haben es geschafft, dass man am Rande von Carmona zwar sehr nahe beieinander wohnt, aber trotzdem genügend attraktive Rückzugsmöglichkeiten hat.

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