Bauwerk

Mont Saint Michel - La Jetée
Dietmar Feichtinger Architectes - Mont Saint Michel (F) - 2009

Wunderberg neu im Wattenmeer

Der „göttliche“ Mont-Saint-Michel in Nordfrankreich wird wieder eine natürliche Insel. Dank menschlichem Eingriff. Genauer: dank dem österreichischen Architekten Dietmar Feichtinger.

15. Februar 2003
Über Jahrhunderte hinweg lebte der berühmteste Inselhügel der Welt vom Zusammenspiel von Natur und Mensch. Auf dem Granitfelsen, der die Meeresbucht zwischen Normandie und Bretagne überragt, errichteten Mönche steile Treppen, waghalsige Stützmauern, gotische Gewölbe, verschachtelte Klosterräume - und zuoberst ein Gotteshaus, das wie natürlich aus dem Urgestein wächst, während seine Turmspitze die Wolkendecke erreicht, ja in himmlische Gefilde vorzustoßen scheint.

Als die Unesco den Mont-Saint-Michel 1979 auf die Liste des Weltkulturerbes setzte, sprach sie auch von einem „Wunderwerk des menschlichen Geistes und der Natur“. Seither ist der Pakt von Mensch und Meer aber gebrochen worden. Nicht vom Meer. Auch nicht von den Benediktinermönchen - die leben dort erstaunlicherweise immer noch in innerer Einkehr, gut abgeschirmt von den 10.000 Touristen, die jeden Tag auf den Berg kraxeln.

Für diese Massen wurde ein mittlerweile 15 Hektar großer Zubringer- und Parkplatzdamm errichtet, der die Insel des Erzengels Michael mit dem Festland verbindet. Bloß stoppte er auch die natürliche Strömung der Gezeiten und des einmündenden Flusses Couesnon. Sand und Sedimente fließen damit bei Ebbe nicht mehr ab, sondern häufen sich in der Bucht an. 700.000 Kubikmeter pro Jahr.

Wer auf dem Klosterberg nach Westen in die Bretagne schaut, erblickt Grünwiesen mit weidenden Schafen und Sandbänke voller Grasbüschel; im Osten, Richtung Normandie, vermag auch die Flut die grauen Dreckmoränen nicht mehr zu verbergen. Dazwischen nimmt sich der Couesnon aus, säuberlich kanalisiert und von einer Schleuse gebändigt.

Das Problem wurde schon vor Jahren erkannt. Das erste ausgereifte Projekt, vom früheren Staatspräsidenten Mitterrand lanciert, sah in den Achtzigerjahren eine gewaltige Geländeumschiebung vor, die den ganzen Küstenstrich verändert hätte. Es war viel zu teuer, um jemals realisiert zu werden, und verschwand in den Schubladen. Die Verlandung ging aber weiter, denn die Natur lässt sich zwar kanalisieren, aber nicht einfach schubladisieren.

Jetzt sind die Planer bescheidener geworden. Nach siebenjährigen Vorarbeiten wählten sie ein Vorgehen, das durch seine Einfachheit - und die entsprechend reduzierten Gesamtkosten von 134 Millionen Euro - besticht: Der Damm soll verschwinden, um die ursprüngliche Strömung wieder zuzulassen. Die Parkplätze werden in das Land zurückverlegt; ein schlanker Steg auf Pfeilern soll die einzige Verbindung zum Klosterfelsen herstellen. Der Mont-Saint-Michel wird damit wieder zur Insel.

Um diesen Aspekt zu betonen, neigt der Sieger des internationalen Wettbewerbes, der österreichische Architekt Dietmar Feichtinger, den Steg auf seinen letzten Metern sogar unter die Höchstwassergrenze. Bei dem enormen Gezeitenausschlag wird die Zufahrt damit zusammengerechnet drei Tage im Jahr unter der Flut verschwinden.

Die zwei Kilometer lange Passerelle ist zudem nicht gerade, sondern geschwungen, sodass ihre Benützer - Fußgänger oder die Benützer der geplanten Elektrobahn in der Stegmitte - zuerst auf den freien Horizont des Ärmelkanals und nicht direkt auf die Insel zugehen. „Dies erhöht den Meerescharakter des Projektes“, meint Feichtinger zum Grundkonzept. „Wir wollen generell so wenige Eingriffe wie möglich vornehmen und die Stegbrücke zu einem Teil der Landschaft werden lassen, indem sie extrem tief liegt und wie ein flaches Deck der Wasserlinie folgt.“

Klingt simpel. „Im Erreichen der Einfachheit liegt aber die Schwierigkeit“, meint der 41-jährige Architekt aus Graz, der seit 1989 in Paris lebt und dort einen hochkarätig besetzten Wettbewerb für den Bau der letzten Seine-Brücke gewonnen hat; in Mont-Saint-Michel arbeitet er mit Schlaich, Bergermann & Partner (Stuttgart) zusammen. Der mehrheitlich mit Holz beschichtete Steg zum Mont-Saint-Michel verzichtet auf jede Diagonale oder Hängestruktur, um die Linienführung nicht zu stören. Dies erfordert alle zwölf Meter Tragpfeiler, da sie überdies unter den Steg „versteckt“ und nicht am Rand angebracht werden. Normale Pfeilerrohre genügen nicht; die Stützen werden aus massivem Stahl sein, um die extreme Schlankheit zu erreichen.

Fazit: Der menschliche Eingriff fügt sich diesmal in die Umgebung ein und ordnet sich der Natur unter - nicht umgekehrt wie bisher. Darin liege die Ironie der Geschichte, kommentieren französische Medien wohlwollend: „Nach all diesen Jahrzehnten des sakrosanten technischen Fortschritts lernt man, dass die Natur eigentlich besser als wir weiß, was gut für sie ist.“

Völlig freier Lauf wird den Gezeiten allerdings nicht gelassen. Abgesehen von Feichtingers Steg enthält das Gesamtprojekt weiterhin eine Schleuse im Couesnon-Fluss. Sie soll aber das Spiel der Wasserströmungen nicht mehr bremsen, sondern unterstützen. Bei Flut dringt das Meerwasser bis in den Unterlauf des Couesnon ein. In Zukunft wird es dort auf dem Wasserhöchststand zurückgestaut; bei Ebbe - sowie zu Beginn der Flut, wenn es zum größten Teil der Ablagerungen kommt - werden die Schleusentore geöffnet, und der verstärkte Wasserdruck reißt die Bodenablagerungen fort.

Wie gewaltig der Gezeitenunterschied - der zweitgrößte der Welt - wirkt, lässt sich allein schon an der Legende ablesen, laut der sich das Meereswasser in dem Wattenmeer von Saint-Michel zeitweise „so schnell wie ein galoppierendes Pferd“ bewegt. Hydrologen (die die Wassergeschwindigkeit etwas prosaischer mit zehn Stundenkilometern angeben) testeten das Bauprojekt monatelang in einem 900 Quadratmeter großen Modell der Meeresbucht. Feichtinger ist „sicher, dass die Verlandung dadurch gestoppt wird“; weniger sicher sei, ob die bestehenden Sedimente wie vorgesehen um einen halben bis einen Meter abgetragen würden.

Wichtig sei aber, dass endlich gehandelt werde, meint der Architekt. Die Dringlichkeit solcher Projekte sei zwar immer relativ. „Aber je mehr man verlanden lässt, desto schwerer ist es, die ursprüngliche Situation wieder herzustellen.“ Nach dem Beginn in diesem Jahr sollen die Arbeiten 2008 abgeschlossen sein.

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