Bauwerk

Stadthaus Scharnhauser Park
Jürgen Mayer H. - Ostfildern (D) - 2002

Performativer Minimalismus

Das Stadthaus Scharnhauser Park bei Stuttgart

Das Stadthaus Scharnhauser Park bei Stuttgart bricht einige der festgefahrenen Kategorien des „öffentlichen Bauens“ auf. Zudem bietet dieses Erstlingswerk des Berliner Architekten Jürgen Mayer H. einen Innenraum, dem durch seine atmosphärisch-informelle Struktur der Bezug zur Stuttgarter Agglomeration gelingt.

7. Februar 2003 - André Bideau
Künstliche Orte wie der in den vergangenen zehn Jahren auf dem Reissbrett entwickelte Stadtteil Scharnhauser Park stellen an ihre öffentlichen Bauten besondere Herausforderungen. Selbst wenn sie heute von anderen Medien in dieser Funktion übertroffen wird, hat Architektur dort weiterhin für die Herstellung von Identität und Öffentlichkeit zu sorgen. Repräsentationsbedürfnisse signalisiert bereits der Name Stadthaus, der - im Unterschied zur schweizerischen Bezeichnung - nicht auf ein administratives Zentrum verweist. Vielmehr ist das vor wenigen Monaten eingeweihte Erstlingswerk des Berliner Architekten Jürgen Mayer H. ein Gebäude, in dem neben einigen Abteilungen der öffentlichen Verwaltung und der Stadtentwicklungsgesellschaft Nutzungen wie Volkshochschule, Musikschule, Bibliothek, Festsaal, städtische Galerie sowie das Trauzimmer des Standesamtes untergebracht sind. Für das im Osten von Stuttgart gelegene Neubaugebiet soll somit eine Attraktion und Bühne geschaffen und ein Grad von Urbanität stimuliert werden.


Künstliche Mitte

Scharnhauser Park gehört zur Stadt Ostfildern, deren Gründung ihrerseits dreissig Jahre zurückliegt. Aus der Vereinigung von vier Gemeinden wurde damals ein lose zusammenhängender Verband gebildet, um - wie in vielen deutschen Agglomerationen - auf die Zersiedelungsdynamik zu reagieren und kommunale Strukturen zu straffen. In Form des neu geschaffenen Ortsteils erhielt Ostfildern ein Zentrum, das Elemente der Gartenstadtbewegung sowie des amerikanischen New Urbanism aufgreift, indem es mit dem Massstab der Kleinstadt auf die Probleme einer schwammig-diffusen Agglomeration antwortet.

Auf die Vergangenheit, die der Ort seit dem Zweiten Weltkrieg durchlaufen hat, lässt das gegenwärtige Gebilde Scharnhauser Park kaum noch schliessen. Hier betrieben zuerst die Luftwaffe, dann die US-Army ein Kasernengelände, dessen Umnutzung sich mit dem Abzug der Alliierten aus Deutschland aufdrängte. 1992 gewann das Stuttgarter Büro Jansson und Wolfrum einen Wettbewerb, den die Gemeinde Ostfildern zur Umgestaltung der 140 Hektaren ausgeschrieben hatte. Der auf dieser Grundlage unter Beteiligung verschiedener Büros umgesetzte Masterplan Scharnhauser Park soll dereinst Wohngelegenheiten für 9000 Einwohner bieten.

Dem sanft abfallenden Gelände folgt eine Zeilenbebauung niedriger Dichte und filtert die offene Landschaft der Umgebung. Zwei Merkmale treten in dieser organischen Bebauungsstruktur besonders hervor: die Ausformulierung des zentralen Boulevards im Wohngebiet als «Landschaftstreppe» sowie die Einbindung der «Nellington Baracks». Diese spröden Zeilenbauten - typische Vertreter der amerikanischen Kasernenarchitektur der Nachkriegszeit - wurden saniert und zu einer Stadtkrone ergänzt, indem man sie durch turmartige Punkthäuser nachverdichtete. Das Scharnier der beiden Bebauungsmuster wiesen Jansson und Wolfrum als Bezugspunkt ihrer Gartenstadt aus. Dort befinden sich Bahnstation, Schule, Verwaltung sowie - im Stadthaus - Kultureinrichtungen, die Scharnhauser Park zu einem Bezugspunkt der Stadt Ostfildern machen sollen.

In einem grösstenteils von Pendlern bewohnten Ort ist ein derartiger Mittelpunkt keine Selbstverständlichkeit und kann - wie die ebenfalls 2002 in Scharnhauser Park durchgeführte Landesgartenschau - in einen inszenatorischen Kraftakt münden. Denn heute herrscht kaum noch Einigkeit über Rolle und Darstellung der Kommunen und des «Öffentlichen», das sich nicht mehr an Zentren und baulichen Kontexten festmachen lässt. Schwierig wird derartiges Selbstverständnis gerade in der am Rande des Stuttgarter Talkessels beginnenden Suburbia. Von einem besonders hohen Grad individueller Motorisierung geprägt, kennt diese Agglomeration eine eigene Shopping- und Freizeitöffentlichkeit, in der nach verkehrs- und steuertechnischen Standpunkten angesiedelte Fachmärkte, Wellnesszentren und Multiplexkinos zwischen den Gemeinden den Ton angeben. Das Stadthaus Scharnhauser Park lässt sich durchwegs als Kommentar zu diesem «Strukturwandel der Öffentlichkeit» begreifen.

Den Hintergrund für die von Mayer H. eingesetzten architektonischen Strategien liefert der Alltag einer zeitgenössischen Pendlergemeinde, deren Einwohner sich mit der Mobilisierung der Lebenszusammenhänge und der weitgehenden Privatisierung des öffentlichen Raums wohl abgefunden haben dürften. Statt diesem «Verlust» mit einer zeitlosen Architekturgebärde nachzutrauern, macht Mayer H. die synthetische Natur des Ortes zum Ausgangspunkt. Kontextbezug, Massstäblichkeit, Transparenz sucht man beim Stadthaus, das sich dem von der Bahnstation Herannahenden eher verschliesst als anpreist, vergebens.

Das heterogene Raumprogramm ist in ein konzentriertes, tiefes Volumen verpackt, das in der Vertikalen leicht angeschrägt ist. Durch diese Störung erhöht sich die reduzierte Kompaktheit des viergeschossigen Quaders, der wie ein Pflock in den Boden gerammt worden zu sein scheint. Erst auf seiner «Rückseite» erlaubt sich das Stadthaus eine rudimentäre Geste der Öffnung, die sich sowohl als Auskragung als auch als Wegnahme von Masse lesen lässt. Einen Gegenakzent zur Auskragung setzt die an der hinteren Gebäudeecke eingeschnittene Loggia, die dem Bau trotz seiner Bulligkeit einen eleganten Balanceakt ermöglicht.

Unter dem markanten Vordach liegt der sich zum künftigen Marktplatz hin öffnende Haupteingang. Er erscheint als eine formale Ausnahme im Flirren der gegeneinander verschobenen Bandfenster. Diese setzen als grafische Komposition alle vier Fassaden horizontal unter Spannung. Dort, wo die Bandfenster die Fassadenneigung nicht mitmachen, entsteht ein tastaturartiges Relief wie auf einem DVD-Player. Den Verfremdungseffekt erhöhen die geschossweise dunkler werdenden Paneele der eloxierten Metallverkleidung: Das dadurch entstehende Streifenmuster in Silber- und Kaffeetönen gleicht einem Siebziger- Jahre-Stretchpullover. Ein zeitgeistiges Objekt für einen ehrgeizigen Stuttgarter Vorort? Bei der Verbreitung von allgemein verständlichen Botschaften im öffentlichen Raum verfügt Design inzwischen über eine der Architektur ebenbürtige Authentizität. Für Mayer H. haben die Grenzen dieser Disziplinen ohnehin wenig Bedeutung: Mühelos gelingt es ihm, jene urbanistischen und tektonischen Codes zu verabschieden, deren Aussagekraft beim «Entwerfen» von öffentlichem Raum besonders in Deutschland gerne überschätzt wurde und wird.


Minimalistische Produktästhetik

Gerade Prestigeprojekte wie Scharnhauser Park, die sich ästhetisch zu positionieren versuchen, belegen die Durchdringung und Überformung des öffentlichen Raumes mit kulturellen Produkten. Nach ersten Ansätzen in den achtziger Jahren wurden Werbung, Stadtmobiliar, Landschaftsarchitektur, künstlerische Interventionen in den neunziger Jahren zum Gegenstand umfassender Kampagnen, mit denen vielerorts der öffentliche Raum erneuert wurde. Im Zeichen solcher Aktionen wurden auch die Grenzen, die einst die Sphären der «Kultur» und der wirtschaftlichen Produktion scharf voneinander trennten, durchlässiger: So wie dabei die traditionelle Vorstellung einer Avantgardepraxis als Opposition ihre Berechtigung verlor, kam es auch zu einer Nivellierung der Bedeutungsüberschüsse einer autonom agierenden, «kritischen» Architektur. In vielen Stadtzentren Europas konnte sich dieser für die Postmoderne massgebende Paradigmenwechsel gerade deshalb auswirken, weil er in die Zeit einer allgemeinen ökonomischen Umprogrammierung des öffentlichen Raums fiel. So erlebten die Innenstädte seit den achtziger Jahren Privatisierungsschübe, die zu einer eigentlichen Neuaufbereitung von Urbanität führten. Seither wird öffentlicher Raum durch die neuen Koalitionen der Public Private Partnerships ausgehandelt und gestaltet - als Ort umfassender Kontrolle, als Erlebniswert und als Produkt.

Das Subjekt dieser neuen Form von Urbanität ist ein Flaneur, dessen Wahrnehmung über Shopping, Tourismus und Kulturkonsum konditioniert wird. Die purifizierte Innenstadt, in der er sich bewegt, bestimmt ein kühler Minimalismus, der mit seinen abstrakten Oberflächen inzwischen als Ikonographie des Öffentlichen fungiert. Das Stadthaus Scharnhauser Park steht im Bezug zum Branding der «Marke Minimal» - nicht nur seiner formalen Erscheinung wegen, sondern auch in der Art, wie hier die Mechanismen eines mutierten öffentlichen Raumes offengelegt werden. In dieser Hinsicht kann von einem performativen Minimalismus gesprochen werden. Einerseits begibt sich hier ein öffentliches Gebäude in das Referenzfeld der Produktästhetik, anderseits wird Architektur durch Interventionen ergänzt, die sich alle mit Fragen der Tarnung, Beobachtung und Inszenierung auseinandersetzen.

Die an ihrer Unterseite mit Wasserdüsen versehene Auskragung generiert rings um den Haupteingang einen Wasservorhang. Gemäss einer «Zeit-Klima-Uhr» werden unterschiedliche Tropfenmuster aus dem gesammelten Regenwasser erzeugt, um das Stadthaus an seiner Schauseite durch ein kontrolliertes Naturereignis zu aktivieren. Das Spektakel verweist gleichzeitig auf prototypische öffentliche Orte: die Wasserspiele herrschaftlicher Gärten des Barocks sowie die Kunstnatur heutiger Shopping-Malls und Freizeitzentren (so etwa das südlich von Ostfildern gelegene SI-Zentrum mit den Musical-Theatern, Schwaben-Quellen und Hotels des inzwischen konkursiten Entertainment-Moguls Rolf Deyhle). Zur Szenographie der Eingangssituation gehört auch eine Schar schwarzer Masten, die den Rand des Marktplatzes besetzt und in Neigung und Massstab mit dem Stadthaus kommuniziert. Wie beim programmierten Wasservorhang handelt es sich hierbei um eine Intervention, in der Mayer H. klimatische und mediale Kontexte im öffentlichen Raum miteinander zu verbinden sucht. An den Stangen befestigte Glasfaserkabel projizieren jeweils einen leuchtenden Punkt auf den Boden. Geplant ist, die mit den Windverhältnissen wechselnden Lichtmuster durch eine in jeder Stange eingebaute Webcam zu filmen, um sie der Homepage der Stadt Ostfildern live zur Verfügung zu stellen. Über die konzeptionelle Verschränkung von Klimafragen, Technologie und Repräsentation stellt Mayer H. jenen Dialog her, den das städtebaulich «stumme» Architekturobjekt auf den ersten Blick zu verweigern scheint. Indem programmierte Atmosphären und Überwachungssysteme in das architektonisch-städtebauliche Dispositiv einbezogen werden, thematisiert das Stadthaus zugleich die allgemeine Reorganisation des öffentlichen Raums. - Tarnungs- und Sicherheitstechniken tauchen auch bei der Innenausstattung auf, wo die Muster der Spannteppiche und Lüftungsgitter auf Datenschutzmustern beruhen. Zum Ornament verfremdet, begleiten diese digitalen Texturen zusammen mit kühlen Leuchtdecken die Erschliessungsbereiche. Das Stadthaus durchweht eine sanfte Retro-Ästhetik. Zusammen mit der zwanglos fliessenden Raumstruktur erzeugt diese ein informelles, beinah Lounge-artiges Ambiente, wie es für die Klubkultur der neunziger Jahre typisch war. Atmosphärisch entspannte Innenarchitekturen kamen damals besonders in Städten wie Berlin und Zürich auf; sie spielten nach der Museumsarchitektur eine wichtige Rolle beim Branding des Minimal zur neuen Chiffre des Urbanen. Neben einer Ästhetik schufen die Betreiber solcher Klubs das Biotop für eine «Lounge-Öffentlichkeit», die auf den atmosphärisch stimmigen Crossover von Musik, Bar, Galerie, Performance-Raum und gesellschaftlicher Bühne setzt. Ob der Zeitgeist des Lounging mit der in der Pendlergemeinde inszenierten Öffentlichkeit kompatibel ist, wird der Alltag zeigen. Doch ermöglichen die Anleihen aus der zeitgenössischen Klubkultur dem Stadthaus ein Raumkonzept, das Szenerie und Mehrfachprogrammierung geschickt einsetzt.


Lounge-Öffentlichkeit

Zur Strukturierung des hybriden Gebäudeprogramms setzt Mayer H. nicht Typologie, sondern Atmosphäre ein. Im Erdgeschoss, wo Empfangsbereich, Bibliothek und städtisches Servicecenter ein zusammenhängendes Raumsystem bilden, wird diese Vernetzung der einzelnen Module zu einem informell organisierten Environment besonders sichtbar. Als mehrgeschossige Einlagerungen in dieses Kontinuum setzen die städtische Galerie, der Festsaal sowie die Treppenhalle die Akzente. Mit ihrem geneigten Betonkörper greift die Treppenhalle das Leitmotiv des Volumens erneut auf.

Durchkreuzt von Treppenläufen, die zugleich Beleuchtungskörper sind, wird sie zum Ort glamouröser Auftritte in Suburbia. So trägt das Stadthaus nicht nur der Artifizialität der neuen Kommune Rechnung. Ausgangspunkt für seine räumliche Strategie ist vielmehr der Erlebnischarakter des öffentlichen Raums, der seinerseits ein Artefakt ist. - Durch seine Rauminszenierungen - bald theatralisch, bald technologisch überhöht - reizt Mayer H. das Thema Kommunikation aus. Andernorts setzt er konzeptionelle Strategien der Reduktion, Tarnung und Irritation ein, um Information zu unterdrücken. Durch dieses Spiel stiftet das Stadthaus dort Verwirrung, wo an das öffentliche Bauen Erwartungen gestellt werden. Besonders in Deutschland hat der Zwang zu Transparenz und Sinnstiftung immer wieder zur ideellen Überfrachtung von Architektur und Städtebau geführt. Auf Grund der Zäsuren von 1933 und 1968 hatte sich das Gros der Architekturproduktion über den moralischen Imperativ zu Kommunikation und Bürgernähe zu legitimieren.

Doch hielt sich der Diskurs in Deutschland auch dann noch mit Konstrukten wie Architektur und Demokratie auf, als die Darstellungshoheit gesellschaftlichen Fortschritts von der Architektur auf andere Medien übergegangen war: Unter den Vorzeichen der Postmoderne wurde der Diskurs weiterhin von Moralkategorien der sechziger und siebziger Jahre beeinflusst. Beim Berliner «Architekturstreit», der nach der Wende in der neuen Hauptstadt vom Zaun gebrochen wurde, offenbarten sich diese Lasten erneut und führten letztlich dazu, dass nahezu alle Herausforderungen einer historisch einmaligen Chance verpasst wurden. Im neutralen Raum der Stuttgarter Agglomeration gelingt es dem Stadthaus Scharnhauser Park jedoch, eine authentische Form von Zeitgenossenschaft zu beweisen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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