Bauwerk

Markthal Rotterdam
MVRDV - Rotterdam (NL) - 2014
Markthal Rotterdam, Foto: Iñigo Bujedo-Aguirre / ARTUR IMAGES
Markthal Rotterdam, Foto: Markus Kaiser

Holländischer Hybrid

Rotterdam befindet sich im Umbruch. Im Herbst 2014 wurde das neueste städtische Wahrzeichen eröffnet – eine einzigartige Markthalle, konzipiert von den Koolhaas-Schülern Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries (MVRDV).

28. August 2015 - Klaus Englert
Rotterdam ist eine Handelsstadt. Zweimal in der Woche verwandelt sich der der Platz über der ehemaligen Binnenrotte am drittgrössten Seehafen der Welt zu einem riesigen Freiluftmarkt. Anbieter aus allen Landesteilen präsentieren an mehr als 400 Ständen ihre Waren. Der Markt im Stadtzentrum, zwischen BlaakBoulevard und SintLaurenskerk, bietet einen unüberschaubaren Reichtum an Fischen und exotischen Früchten, die Palette reicht vom einheimischen Käse bis zur religiös korrekten Kleidung für die muslimische Frau. Der Rotterdamer Bevölkerung war das nicht genug. 2004 schrieb die Stadtverwaltung einen Investorenwettbewerb für einen Überbauung im Laurensviertel aus, das bislang durch ein Übermass an Büros und Läden geprägt war. Das Ziel: innere Verdichtung und die Verbesserung der Lebensqualität im Quartier. Die Ausschreibungsbedingungen sahen deswegen neben Wohnungen auch einen Markt vor, als Ergänzung zum bestehenden. Neue EUVorschriften verlangten aus hygienischen Gründen allerdings eine überdachte Variante.

Markthalle – neu interpretiert

Das Team von MVRDV, das gemeinsam mit dem Investor Provast den Wettbewerb gewann, nahm den Anspruch wörtlich und setzte auf ein Hybridgebäude, das wesentlich dazu beitragen soll, das Viertel zu beleben. So errichteten die Rotterdamer an der Seite des Wochenmarkts auf dem sumpfigen Grund der Binnenrotte eine Markthalle, die sich zwar an die grossen Vorbilder in Barcelona und Valencia anlehnt, dabei aber eine völlig neue Typologie schuf. MVRDV orientierte sich nicht an den spanischen EisenGlasKonstruktionen, sondern wählte ein riesiges Tonnengewölbe mit einer Länge von 120 m, einer Höhe von 40 m und einer Breite von 70 m. Ausserdem waren vier Tiefgeschosse vorgesehen, was einen Aushub von 15 m erforderlich machte.

Da die Markthalle dort errichtet werden sollte, wo einst der Damm durch die Rotte verlief, war der Boden nass und instabil, der Grundwasserspiegel lag bei 3 m unter dem Strassenniveau. Es galt also, die Baugrube durch Spundwände und ein Fundament aus 2500 Betonpfählen zu stabilisieren. Es folgte ein Stahlbetonrahmen, der die Baugrube zusätzlich bis auf 8 m sicherte und als Tragwerk des 1. Untergeschosses diente. Derartige Tiefbauarbeiten, eine Spezialität niederländischer Ingenieurtechnik, sind schwierig zu bewerkstelligen, da der auf Spundwände und Stahlbetongerüst wirkende Druck durch Flutung der Baugrube ausgeglichen werden muss. Deshalb führten Spezialisten die weiteren Aushubarbeiten und die folgende Stahlbewehrung unter Wasser durch, in einem grossen künstlichen See. Mittels schwimmender Kräne wurde die Baugrube weiter ausgehoben, der Einsatz von GPS Technologie sollte verhindern, dass das bereits bestehende Betontragwerk beschädigt wurde. Taucher verlegten die Bewehrung für die 1.5 m dicke Bodenplatte. In einem 72StundenEinsatz wurde sie ebenfalls un ter Wasser gegossen. Nach Auspumpen der Baugrube erwies sich die Platte, die eine Last von 12?000 kg/m² tragen muss, als wasserdicht. Es folgte die Errichtung der vier Untergeschosse. So entstand peu à peu die Markthalle der Superlative. Aussergewöhnlich ist die überdimensionale transparente Glaswand an den Stirnseiten des Baus.

Es handelt sich um eine Seilnetzfassade, bestehend aus einem Raster vorgespannter, 9 bis 15 cm dicker Stahlseile, zwischen die die jeweiligen Glasscheiben geklemmt wurden. Vergleichbar mit einem Tennisschläger bilden die Seiten der Fassadenöffnung einen steifen Rahmen, während die Fassade selber beweglich ist und auch schweren Stürmen standhält. Sie kann bis zu 70 cm nach innen gedrückt werden, dabei dehnen sich die Seile um bis zu 4 cm.

Kurz bevor die Markthalle im Herbst 2014 eröffnete, erhielt das Gewölbe den letzten Schliff. Neben dem Detailhandel auf der ersten Ebene überspannt es 96 Marktstände, die alles anbieten – von der rheinischen Currywurst bis zu arabischen Gewürzen, vom holländischen Käse bis zum türkischen Baklava. Einige der Stände sind für temporäre Nutzungen reserviert. Auf 4500 perforierten Aluminiumpaneelen, 2 mm dick und 152?×?152 cm gross, haben die Rotterdamer Künstler Arno Coenen und Iris Roskam ein computergeneriertes Riesengemälde aufgetragen, das bereits auf dem Vorplatz die Blicke der Passanten auf sich zieht. Das 11?000 m² grosse, nachts erleuchtete Pixelbild «Füllhorn», das an Motive niederländischer Barockstillleben erinnert, lässt über den Köpfen der Marktbesucher allerlei Früchte und Gemüse in kräftigen Farben herabregnen.

Keine Luxusinsel

Die Grossform der Markthalle mutet zwar wie ein überdimensionaler Fremdkörper im Rotterdamer Stadtbild an, doch verrät die langjährige Beschäftigung der Architekten mit dem öffentlichen Raum, dass sie sich für eine technisch innovative, an Nachhaltigkeitskriterien orientierte Architektur begeistern, die den Stadtraum bereichert. Daraus entwickelten sie ihre Vorliebe fürs Hybridgebäude. Die MVRDVLosung «Eine Stadt in der Stadt errichten» zielt nicht auf einen massiven Turmkomplex, wie ihn Rem Koolhaas an der Maas hochgezogen hat («De Rotterdam» von 2013). Vielmehr steckte das Rotterdamer Trio Maas, van Rijs und de Vries 228 Wohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen zwischen dem dritten und elften Geschoss in die Flügel des Tonnengewölbes. Die über dem Detailhandel in den ersten beiden Ebenen gelegenen 102 Miet und 126 Eigentumswohnungen, 80 bis 300 m² gross, verfügen alle über eine Terrasse, die sich über die gesamte Länge der Wohnung erstreckt. In der Angebotspalette finden sich Lofts und Maisonettewohnungen; die Hälfte gestatten – hinter dreifach verglasten Scheiben – den Blick aufs quirlige Treiben des Markts. Allerdings sind die oberen Penthousewohnungen, die den Bogen schliessen, stark abgeschrägt, da ansonsten der Tageslichteinfall nicht ausreichend gewesen wäre.

Mehr als nur Architektur

Den Rotterdamer Architekten ist es gelungen, eine Stadt im Kleinen zu errichten – mit Marktständen, unterirdischen Parkgeschossen, einer kleinen, von Kossmann.dejong gestalteten archäologischen Dauerausstellung, Supermarkt, Detailhandel sowie Miet und Eigentumswohnungen. Alles unter einem Dach. Das Resultat – die Architekten nennen es «24StundenGebäude» – ist ein kleines holländisches Wunder, das dereinst auch Kulturveranstaltungen einschliessen soll. Schon jetzt ist der Bau aus Rotterdam nicht mehr wegzudenken

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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