Bauwerk

Apotheke „Zum Löwen von Aspern“
ARTEC Architekten - Wien (A) - 2003

Durch und durch und durch

Beratungsinseln statt eines durchgehenden Verkaufspults, ein großer Bereich für Selbstbedienung, ein „gläsernes“ Labor: „Zum Löwen von Aspern“, die etwas andere Apotheke von ARTEC.

28. November 2003 - Christian Kühn
Der alte Ortskern von Aspern - das klingt ein wenig nach guter alter Zeit. Hier hat im Jahr 1809 Erzherzog Karl in einer erfolgreichen Schlacht den Mythos von der Unbesiegbarkeit Napoleons zerstört, und weil Österreich an erfolgreichen Mythenzerstörern nicht gerade reich ist, führen ihn unsere Schul-bücher seither als den „Löwen von Aspern“. Dem Ort hat das ein Denkmal und einen Namen mit gutem Klang beschert, auch wenn das ehemalige Angerdorf heute längst in die Gemeinde Wien eingegliedert ist.

Von der guten alten Zeit ist in Aspern heute wenig zu spüren. Durch die enge Hauptstraße wälzt sich der Verkehr, viele Häuser haben ihre letzte Renovierung schon einige Zeit hinter sich. Seit kurzem findet sich hier ein Neubau, der zur Aufwertung des Orts beiträgt, gerade weil er sich - in architektonischer wie in funktioneller Hinsicht - nicht an die Spielregeln der guten alten Zeit hält. Wilhelm Schlagintweit, der Bauherr, hat nur bei der Namengebung eine Konzession an den Genius Loci gemacht: „Zum Löwen von Aspern“ heißt die Apotheke, die er hier von ARTEC Architekten entwerfen ließ. Das inhaltliche Programm weicht aber einigermaßen von dem ab, was man sich üblicherweise unter einer Apotheke vorstellt.

In den meisten Apotheken bildet die „Tara“, das große Verkaufspult, eine natürliche Grenze zwischen dem Apotheker und seinen Kunden. Platz für Beratungen ist knapp, in der Regel gibt es kaum Möglichkeiten für den Kunden, sich im Kosmetik- und Nahrungsmittelbereich selbst zu bedienen, wie er es heute aus den meisten Einzelhandelsgeschäften gewohnt ist. Dass Apotheken sich in ihrer Struktur weit weniger verändert haben als die Geschäftslokale anderer Branchen, liegt nicht an der besonderen Ware, die hier verkauft wird, sondern vor allem an der geringen Konkurrenz auf einem staatlich geregelten Markt. Aber auch hier ändern sich die Rahmenbedingungen: Die Handelsspannen sinken, und auch der Internethandel wird zumindest mittelfristig den Umsatz reduzieren.

Um hier wirtschaftlich zu bestehen, positioniert sich die Apotheke in Aspern als Gesundheitszentrum: Im Verkaufsraum finden sich Beratungsinseln anstelle eines durchgehenden Verkaufspults und zusätzlich ein großer Bereich für Selbstbedienung. Die Kunden können bei der Herstellung von Salben und Tinkturen zusehen. Ein kleiner Vortragssaal dient für Beratungs- und Kulturveranstaltungen, und am Samstag wird das Angebot durch einen „Bauernmarkt“ ergänzt. Auf dem Dach hat Schlagintweit einen Kräutergarten nach benediktinischem Muster anlegen lassen, in dem die Pflanzen nach den Krankheiten, zu deren Heilung sie eingesetzt werden können, geordnet sind. Ein Cartoon, mit dem die Apotheke für sich wirbt, zeigt einen zufriedenen Kunden mit dem Ausspruch: „Das ist keine Apotheke, das ist ein Event.“

Es ist kein Zufall, dass die Apotheke Anfang November nicht von der Gesundheitsstadträtin, sondern von Wiens Planungsstadtrat Schicker eröffnet wurde. Private Initiativen zur Schaffung von öffentlichem Raum sind gerade in den Randbezirken besonders wichtig, denen das Zentrum immer noch kulturelle Identität absaugt. Eine Apotheke mit Programm kann genauso gegen diesen Abfluss beitragen wie eine Schule oder ein Sozialzentrum.

Architektonisch haben ARTEC das anspruchsvolle Konzept ihres Bauherren kongenial umgesetzt und eine Apotheke entworfen, durch die man durch und durch sehen kann. Streng genommen, hat sie weder Wände - wenn man von den beiden Feuermauern absieht - noch ein Dach, denn die halbrunden Betonelemente, mit denen das Gebäude an den Schmalseiten abgeschlossen wird, lassen sich kaum in die Kategorie „Dach“ einordnen. Eigentlich handelt es sich um Träger, die die ganze Breite des Grundstücks von rund 15 Metern überspannen und es ermöglichen, die Fassade darunter stützenfrei auszubilden. Um die von den Architekten geforderte glatte und wasserdichte Oberfläche zu erzielen, mussten sie als Fertigteile hergestellt und auf der Baustelle mit der Ortbetondecke verbunden werden. Das klingt einfach, ist allerdings bei größeren Spannweiten höchst kompliziert umzusetzen. Oskar Graf, der bei diesem Projekt für die Tragwerksplanung und die Bauphysik verantwortlich war, hat in dieses Detail viel Zeit investiert. Teurer als ein konventionelles Konzept mit Mittelstützen ist die Lösung aber nicht geworden, denn immerhin hat man sich die zusätzlichen Fundamente erspart, die für die konventionelle Lösung nötig gewesen wären.

Das Thema das stützenfreien Raums haben ARTEC konsequent durchgezogen. Im Verkaufsraum hängen die Regale des Selbstbedienungsbereichs von der Decke und wirken durch ein raffiniertes Beleuchtungskonzept wie Lichtkörper. Dahinter schließt einer der beiden Höfe an, die ARTEC in den Baukörper eingeschnitten haben. Im Sommer lässt sich dieser Freiraum durch große Schiebetüren in den Verkaufsraum einbeziehen.

Auf der zweiten Ebene liegen die Sozialräume, das Büro für den Chef und der Ausgang in den Kräutergarten. Dass es ARTEC auch hier gelungen ist, die räumlichen Grenzen zwischen den Funktionsbereichen aufzuheben, ohne die Funktionen zu beeinträchtigen, ist ein besonderes Kunststück. Weder die Garderoben noch der Schlaf-bereich für die Nacht- und Wochenenddienste sind räumlich fix abgetrennt, ohne dass sich daraus Nachteile ergeben würden. Der Gewinn besteht in einer räumlichen Großzügigkeit, die jedem der Funktions-bereiche gewissermaßen gratis zugute kommt. Besonders wichtig ist in solchen offenen Strukturen eine gute Haustechnikplanung, für die hier Christian Koppensteiner, ein langjähriger Partner von ARTEC, verantwortlich war. Großflächige Heizung und Kühlung über die Betondecken sorgen für ein angenehmes Raumklima.

Seit der Eröffnung der neuen Apotheke hat sich der Umsatz - gegenüber dem Vorgängerlokal, das sich in einem Altbau befand - um 30 Prozent erhöht. Die Kunden schätzen die Offenheit und Großzügigkeit, den Wegfall der Barrieren und die bessere Beratung. Nur wenige fragen angesichts der Sichtbetonoberflächen an Decke und Feuermauern, warum man den Bau nicht zu Ende geführt habe. Für mehr Aufregung sorgen die glatten Betonträger, die das Erscheinungsbild der Apotheke zur Straße hin prägen. „In einem Vorarlberger Bauerndorf würde man solche Architekten mit Mist-gabeln davonjagen“, schrieb ein aufgebrachter Anrainer. Dass Vorarlberger Bergdörfer inzwischen für ihre Dichte an guter zeitgenössischer Architektur bekannt sind, hat sich offenbar noch nicht bis in den 22. Bezirk herumgesprochen. Zur Beruhigung: Hier wollte niemand provozieren, niemand sich ein Denkmal setzen. Bauherr und Architekten haben mit heutigen Möglichkeiten versucht, auf die Bedingungen und Bedürfnisse der Zeit zu reagieren. Unter Vorarlberger Bergbauern - immer schon pragmatischer als wir Ostösterreicher - gibt es darüber schon längst keine Debatte mehr: Wer sich in der trügerischen Sicherheit überkommener Formen einmauert, hat keine Zukunft.

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